UELFE_DISPLAY – Ein neues Bild der Landschaft, 2014 | Sabine Elsa Müller | Katalog

Eine der beeindruckendsten Arbeiten auf der Documenta 13 in Kassel im Jahre 2012 war ein begehbares Landschaftspanorama, das den über eine Galerie zugänglichen ehemaligen Tresorraum einer Bank fast ganz ausfüllte. Die Britin Tacita Dean hatte die Berge rund um Kabul als dramatischen Schwarzweißkontrast mit weißer Kreide auf schwarzen Grund gezeichnet, der die Erhabenheit und vermeintliche Unberührtheit der verschneiten Gipfel und tiefen Täler noch betonte. Als Vorlage diente vom Hubschrauber aus aufgenommenes, stark beschädigtes Filmmaterial. Die Beschädigungen sorgten für abrupte Leerstellen inmitten der Illusion einer ursprünglichen Natur. Das Schwarz schien sich immer weiter auszubreiten und die Landschaft allmählich auszulöschen.

Wenn die Documenta 13 als eines ihrer Hauptanliegen die Neujustierung der Beziehung des Menschen zur Natur propagiert, reagiert sie damit auf einen unmittelbar aus der zeitgenössischen künstlerischen Praxis hergeleiteten Befund. Die alte Unterscheidung in Natur und Kultur macht den Künstlern seit jeher zu schaffen; was Wunder, dass die unheilvolle Verquickung von Wirtschaft, Ökologie und Politik gerade hier umso intensiver wahrgenommen wird. Ist es also wirklich überraschend, dass in diesem Zusammenhang die Landschaft als Bildgegenstand wieder in das Gesichtsfeld gerät? Die Landschaftsmalerei zählte einmal neben der Historienmalerei, der Allegorie, dem Portrait und dem Stillleben zu den Hauptgattungen der Malerei. Ja, man kann sagen, dass sie vor ihrem (vorübergehenden) Verschwinden für die großen Kunstepochen von Impressionismus und Expressionismus – die schließlich in die Abstraktion mündeten – eine entscheidende Rolle spielte. Und Ende der 1960er Jahre, jenseits der Malerei, wurde mit der Land Art für die Landschaft sogar ein eigenes Genre erfunden.

So ganz aus der Kunst verschwunden ist die Landschaft nie. Wir brauchen sie als Widerhall, als Projektions- und Reflexionsraum unseres Weltempfindens – des uns Verstörenden und Fremden ebenso wie unserer Sehnsüchte und Hoffnungen. Sie spiegelt unsere Selbstwahrnehmung in der Welt. Zwischenzeitlich hat die Fotografie die Rolle der Landschaftsmalerei übernommen, etwa in den frühen, geradezu Friedrich´schen Landschaften von Andreas Gursky oder bei bedeutenden Vertretern aktueller Landschaftsfotografie wie Michael Reisch, Boris Becker oder Bernhard Fuchs. Über die Fotografie fand auch Gerhard Richter immer wieder zurück zur Landschaft, ebenso wie David Hockney, der zwischen (digitaler) Zeichnung, Malerei und Film die Medien virtuos wechselt.

Denn eine neue Landschaftsmalerei kann kaum bedeuten, dass dem Tross der bis in die hintersten Winkel eindringenden Freizeitaktivisten demnächst die Maler mit zusammenklappbaren Staffeleien folgen werden, um die Pleinairmalerei der Impressionisten wieder aufleben zu lassen. Sie kann aber aus zwei Edelstahlspiegeln mit den Maßen 320 x 175 cm aufgebaut sein, die mit 2-Komponenten-Lack beschichtet sind und, statt an der Wand zu hängen, über dem Wasserspiegel eines Sees zu schweben scheinen. Raymund Kaisers UELFE_DISPLAY ist pure Landschaftsmalerei. Eine Malerei, die über den flirrenden Augenblickseindruck des Impressionismus hinaus die Landschaft tatsächlich in ihrem tages- und jahreszeitlichen Wandel zeigt. Und die den Menschen nicht der Natur gegenüberstellt, sondern im Akt der Betrachtung in dieses Bild integriert. Am anderen Ende des gespiegelten Raumes erleben wir uns und andere Personen als Bestandteil der Landschaft. Wir bewegen uns in ihr als ebenso flüchtige Erscheinungen wie die Landschaft selbst. Alles ist Bewegung, Veränderung und hat seinen Anteil an einem ewigen Kreislauf.

Der Wechsel des Lichts und der (Farb-)Temperatur erscheinen auf dieser akzentuierten, rechteckig begrenzten Fläche potenziert wie in einem Brennglas. Das tief in die spiegelnde Binnenfläche eingetauchte Bild unterscheidet sich eklatant von der deckenden Farbschicht, die es wie einen Rahmen einfasst. Beide Farbebenen reagieren mit hoher Sensibilität auf das Licht, aber auf ganz unterschiedliche Weise, so dass je nach Einfallswinkel mal die eine, mal die andere Fläche intensiv aufleuchtet bzw. dunkel verschattet. Dazu verhält sich die Spiegelung auf der Wasserfläche ebenfalls nach ihren eigenen Gesetzen immer wieder anders.

Nicht nur der See und die das Ufer säumenden Bäume verändern sich je nach Wetter, Tages- und Jahreszeit, auch der Farbspiegel bleibt sich niemals gleich. Mischen im Sommer und Herbst das Grün bzw. Gelb und Orange der Bäume in der Farbskala kräftig mit, so setzt sich im Winter und Frühjahr der starke Pinkton gegenüber der fast farblosen Umgebung umso mehr ab. Bei Nebel oder in der schneebedeckten Landschaft leuchtet er wie ein wärmendes Licht über dem See. Dann drehen sich die Verhältnisse um, und, anstatt die Landschaft in sich aufzunehmen, färbt der starke Farbakzent auf die Landschaft ab: Der Naherholungsraum Uelfebad erhält ein prägnantes Identifikationsmerkmal, das ihn malerisch akzentuiert und vor ähnlichen Orten auszeichnet.

Während Kunst im öffentlichen Raum oft beziehungslos und isoliert von ihrer Umgebung zu sein scheint, lebt UELFE_DISPLAY geradezu von der Begegnung. Es stellt das, was da ist, zur Disposition und lenkt den Blick auf dessen Lebendigkeit und Mannigfaltigkeit. Wie in einem Zauberspiegel entdecken wir unser Umfeld neu. Der zurückgeworfene Eindruck verändert sich ständig und fordert unsere Aufmerksamkeit heraus. Im spannungsvollen Dialog mit der Malerei wird der Lebensraum intensiver und spektakulärer wahrgenommen, als wir es im Alltag gewohnt sind. Am Beispiel der Landschaft erfahren wir Realität als permanent sich wandelndes Beziehungsgeflecht zwischen Betrachter, Standpunkt und Perspektive.

Der maßgebliche Anteil des Betrachters bei der Wahrnehmung ist das Thema der Malerei von Raymund Kaiser. Ihre offene Struktur bietet reichlich Raum für die Interaktion zwischen Werk und Betrachter. Das Werk wird zum Partner. Es befindet sich auf derselben Ebene und ist denselben Einflüssen ausgesetzt – dem Spiel des Lichts, den Formen, Farben und Energien des Raumes. Gleichzeitig geht es auf Distanz: Bei UELFE_DISPLAY geschieht dies einmal durch die Positionierung inmitten der Wasserfläche, aber auch durch die Spiegelfläche, die eher an einen Bildschirm erinnert als an die stoffliche Oberfläche der Malerei. Diese Doppelgesichtigkeit in Form einer Einbeziehung des Außenraums bei gleichzeitiger Verschließung der Oberfläche ist auch für Kaisers Malerei mit Öl und Lack auf Holz oder mit Permanentmarker auf Spiegelfolie oder Transparentpapier typisch.

Bei den beiden tief im Grund des Sees verankerten Edelstahlspiegeln kommt noch etwas hinzu: Bei der Umrundung kippt die Fläche weg und wir sehen nur noch das dünne Profil der Platten. Das Bild verschwindet und zurück bleibt die Apparatur einer Illusion. Oder es setzt sich Schnee auf der Oberfläche der Spiegel ab, wodurch eine weitere Wirklichkeitsebene geschaffen wird, die zum Bild gehört, aber doch außerhalb des gespiegelten Illusionsraums bleibt. Magische Momente einer intensiv aufglühenden Landschaftsvision wechseln mit dem lapidaren Eindruck der starren Konstruktion, die an Schilder oder Tafeln erinnert, wie sie in Naherholungsgebieten nicht selten sind. Dieser Gegenstand ist nicht fixierbar, er changiert zwischen Fläche und Raum, Bild und Konstruktion, Kunst und irgendetwas anderem.

Insofern liegt es im Auge des Betrachters, die visuellen Sensationen bewusst zu erleben, wenn sich die Landschaft im Farbspiegel in eine von Licht durchglühte Atmosphäre taucht wie bei William Turner, im Glitzern und Flimmern der Reflexionen ein impressionistisches Verschmelzen von Licht und Farbe anhebt oder räumliche und flächige Wirkungen in Einklang kommen wie bei Paul Cézanne. Laut einer These des Philosophen und Kunstkritikers Boris Groys verdankt sich das Neue weniger der Erfindung als der Umwertung. Die Innovation dieser neuen Landschaftsmalerei steckt in ihrem Vermögen, die Subjektivität jeder Wahrnehmung – und damit unseren Begriff von Wirklichkeit – am Beispiel der Landschaft erfahrbar zu machen.