über malen | Ute Dreckmann | Katalog über malen | galerie januar, 1993
Raymund Kaiser ist Maler. Sein künstlerisches Thema ist die Malerei als Prozeß. Malerei ist das Auftragen von Farbe auf einen dafür vorgesehenden bzw. vorbereiteten Bildträger mittels eines dazu geeigneten Werkzeugs. Thematisiert wird die Farbe in ihrer physischen Beschaffenheit wie in ihrer psychischen Wirkung. Farbe evoziert Raum, Licht und Bewegung.
Obwohl diese knappe Definition dem erstmals 1913 von Kasemir Malewitsch aufgestellten Postulat einer reinen, d.h. von der gegenständlichen Welt befreiten Malerei sehr nahe kommt, stehen die auf eben diesen Grundsätzen basierenden Arbeiten Raymund Kaisers nicht in dieser Tradition. Kaiser interessiert die Malerei nicht nur als künstlerischer Ausdrucksträger, sein Augenmerk liegt ebenso auf ihrer Wesenhaftigkeit.
Das Auftragen von Farbe setzt einen – wie auch immer gearteten – Untergrund voraus. Bei Raymund Kaiser sind das vorzugsweise Spanplatten und Fotos, seltener Papier. Bei den neuesten Arbeiten bezieht er direkt die Wand mit ein. Die Spanplatten bringt Kaiser durch Brechen oder Reißen auf das gewünschte Format. Mindestens eine Seite dieser Bildträger wird davon ausgenommen, bleibt also glatt. Zuweilen findet Kaiser die Platten so wie er sie wünscht. Dann verwendet er sie unverändert.
Auf die Spanplatten trägt Kaiser mit lockerer Pinselführung in einer dünnen lasierenden Schicht eine Grundierung in neutralen grauen oder bräunlichen Tönen auf oder eine Farbe, die innerhalb des Farbspektrums ein paar Nuancen neben der anvisierten Hauptfarbe der Übermalung liegt. Dabei achtet er darauf, daß Grundierung, bzw. Grundfarbe und Übermalung jeweils eine kühle und eine warme Note haben. So liegt z.B. ein warmes Grau oder Gelb auf einer kühlgrauen Grundierung, ein warmes, kräftiges Orangegelb überdeckt ein kühles Gelb oder ein warmes Rot ein kühles Violettrot.
Im Gegensatz zu dem gestischen, dünnflüssigen Farbauftrag des Untergrundes geschieht die Übermalung mit Pinsel oder Spachtel möglichst gleichmäßig mit Farbe von dichter, pastoser Konsistenz. Die obere Farbschicht bedeckt die Grund(Farb-)Fläche nicht vollständig. In jedem Fall bleibt diese auf einem schmaleren oder breiteren Randstreifen von der Übermalung ausgespart. Zuweilen überdeckt die obere Farbschicht die Grundfarbe auch nur zur Hälfte. Immer bleiben die Arbeiten Raymund Kaisers auf maximal zwei Farben beschränkt.
Während die sichtbaren (Rand-)Bereiche des Untergrundes immer mit mindestens einer rauhen (Reiß-)Kante abschließen, vollzieht sich die Übermalung in den meisten Fällen in einem streng rechtwinkligen Geviert mit geraden Seiten. Eine Reißkante ist hier sehr selten. Die Schnittstelle von Übermalung und Grund-(Farb-)Fläche verläuft hingegen immer in einer horizontalen oder vertikalen Geraden.
Raymund Kaiser befestigt seine Bilder nicht direkt auf der Wand, sondern läßt sie mit Hilfe eines Abstandhalters in geringer Entfernung objekthaft vor der Wand schweben. Bei seinen neuesten Arbeiten liegt die räumliche Trennung nicht mehr zwischen Bildträger und Wand sondern zwischen der auch hier locker, ohne feste Ränder aufgetragenen (Farb-)Grundierung auf der Wand und der davorschwebenden scharfkantig rechtwinkligen Platte mit der monochromen „Übermalung“.
Im Gegensatz zur Skulptur, die aus sich heraus existiert, setzt Malerei immer einen Bildträger voraus. Mit diesem Bildträger kann die Farbe – je nach beider Beschaffenheit – verschiedene Verbindungen eingehen. Ein saugstarker Untergrund wird mit einer dünnflüssigen Farbe schnell verschmelzen. Es sei denn, eine Isolierschicht, die Grundierung, tritt dazwischen. Pastos aufgetragene Farben legen sich schichtartig auf den Grund und überdecken ihn. Und die farblosen, fetthaltigen Substanzen der Ölfarben durchtränken bei absorbierenden Gründen, wie Papier, nicht nur die bemalten Flächen, sondern laufen über sie hinaus und umgeben die farbigen Bereiche kranzartig wie einen Hof.
Malerei vollzieht sich – zeitlich wie räumlich – in Schichten. Auf den Bildträger wird die Grundierung aufgetragen, darauf folgen eine oder mehrere Farbaufträge. Malerei hat folglich nicht nur ein Vorher und ein Nachher sondern auch ein Oben, Unten und Dazwischen. Hier liegen die Ansatzpunkte für das Verständnis von Raymund Kaisers Arbeiten. Der bewußt zweideutige Titel der Ausstellung „über-malen“ läßt durch den geringen Abstand zwischen beiden Wärtern zwei Bedeutungen zu, die des thematischen Exkurses, und die rein verbale. Malen bedeutet immer ein Darunter übermalen, einmal im Sinne von „über- bzw. bearbeiten“, zum anderen im Sinne von „den Untergrund überdecken“, ihn also unsichtbar machen.
Letzteres wird besonders deutlich bei Kaisers übermalten Fotos. Die pastos aufgetragene monochrome Farbschicht deckt das darunterliegende Foto blickdicht ab. Nur die von der Farbe ausgesparten gerissenen Randzonen lassen Rückschlüsse auf das Darunter zu. Einmal als Foto identifiziert, erweckt es Neugierde, den Wunsch zu wissen, was sich unter der deckenden Farbschicht verbirgt. Durch seinen abbildenden Charakter verweist das Foto auf die Wirklichkeit. Diesen Verweis überdeckt Kaiser mit der „konkreten“ Farbe. Facit: Malerei liefert kein Abbild der gegenständlichen Welt sondern beansprucht ihre Existenz aus sich heraus.
Bei den Arbeiten auf Spanplatte klingt eher das Prozeßhafte der Malerei an im Sinne eines Aufbaus aus verschiedenen Schichten und Ebenen, die schließlich das Gesamtbild ergeben. Die von der Übermalung ausgesparten (Rand-)Bereiche der Arbeiten öffnen die Bilder in mehrfacher Hinsicht. Sie dokumentieren das Darunter und gewähren „Einblicke“ Vergleichbar mit einem Gegenstand, der nur unzureichend durch eine Abdeckung verhüllt ist, scheinen sie unter der Übermalung hervorzulugen. Der gestische Farbauftrag bzw. die schwarzweiß Töne der Fotos strukturieren den Untergrund in hellere und dunklere Zonen, die den Eindruck von Räumlichkeit erzeugen. Die gerissenen Ränder öffnen die Malfläche in den Raum und in die Fläche. Indem sie einen Ausschnittcharakter illusionieren, wird das Bild als sich fortsetzend vorstellbar. Die rauhe Struktur der Reißkanten verleiht den Bildern objekthafte Dreidimensionalität.
Bei den neuen Arbeiten, bei denen die (Farb-)Grundierung direkt auf der Wand liegt, bleibt der grenzüberschreitende Charakter erhalten. Dennoch wirken die Arbeiten in sich geschlossener. Der nicht fest umrissene, lockere Farbauftrag der Grundierung entspricht zwar in etwa den Reißkanten, doch das Ausschnitthafte entfällt. Durch das direkte Einbeziehen der Wand erhalten sie statt dessen mehr Tiefe. Die „Grundierung“ der davorschwebenden „Übermalung wird jetzt gleichzeitig zur „Übermalung“ der darunterliegenden Wand. Es findet also auch hier eine „Grenzüberschreitung“ statt.
Diesem „offenen“ Charakter des Bildäusseren steht innerbildlich das scharfkantig umrissene Geviert der Übermalung, zumindest aber eine exakt geradlinige Schnittkante zwischen Übermalung und Grund-(Farb-)Fläche gegenüber. Diese Schnittstellen symbolisieren das Prinzip des Dualismus in der Malerei von Raymund Kaiser. Seine Arbeiten sind sowohl Bilder als auch Objekte. Sie sind räumlich und flächig. Sie stellen warm gegen kalt (vice versa) und rauh gegen glatt. Sie verhüllen und zeigen dennoch „Einblicke“. Sie sind exakt begrenzt und dennoch „grenzenlos“. Sie sind subjektiv wie objektiv. Sie vereinen Planung und Zufall, Ordnung und Chaos. Diese Gegensätzlichkeit in der Einheit und ihre Vielschichtigkeit verleihen den Bildern von Raymund Kaiser etwas Wesenhaftes, das weit über die Arbeiten selbst hinausweist.