FARBE REALISIEREN | Jens Peter Koerver | Ausstellung in der artothek Köln, 1997 | Traduction par Nadia van der Grinten | Katalog

Reduziert auf jeweils zwei hart gegeneinander gesetzte homogen erscheinende Farbflächen konzentrieren sich die Arbeiten Raymund Kaisers ganz auf Erscheinungsweisen von Farbe. Aus der Konzentration der Mittel auf ein Minimum erwächst eine unerwartete Wahrnehmungsfülle des Phänomens Farbe als eines vielfältig ineinandergreifenden Zusammenspiels von Licht, Raum, Farbmaterial, Flächenproportionen, Zeit und Sinnesarbeit des Betrachters. Eine horizontal oder vertikal verlaufende Grenze trennt zwei Flächen voneinander. Prägend für ihr Verhältnis ist e wachsende Spannung. Nur unzureichend kann der beiden Flächen gemeinsame Farbton, der die Gesamterscheinung des Bildes bestimmt, benannt werden. Jeder Versuch, ihn genau zu sehen und so exakt zu bestimmen, reichert ihn mit zusätzlichen Nuancierungen an. Die mit jedem annähernden Benennen einhergehende Unsicherheit resultiert aus dem Bestreben des Künstlers, für jedes Bild einen neuen, gleichsam unbekannten oder möglichst unvertrauten Farbton zu finden.

Indizien für diesen Prozeß der Farbentwicklung bieten die aus zahlreichen Lasuren entstandenen Farbzonen, die als transparenter, flach geschichteter Farbschleier eine mehr oder weniger stark glänzende Fläche bilden. Diese Zone gewährt Einblick in die Farbentstehung aus zahlreichen, einander überlagernden, manchmal hart kontrastierenden Farben. Der Glanz dieser Flächen erzeugt gefärbte Spiegelungen, vage Abbilder. Sie weitet diese Zone zum Farb-Spiegel-Raum von unbestimmter Tiefe. Als Reflektor öffnet sie sich der Umgebung, wie sie den Betrachterblick in die diffuse Räumlichkeit des Bildes einläßt, gleichzeitig bleibt sie ebenes Farbfeld. So ist sie doppelt veränderlich durch die Transformationen des Lichtes im Realraum und wechselnde Standorte des Betrachters. Unterschiedliche Blickwinkel können diesen oder jenen Aspekt für die Wahrnehmung dieser Farbfläche vorherrschend machen; das Bild entsteht als Summe seiner möglichen Erscheinungsbilder.

Zugleich zähe, schwere Farbmaterie und völlig homogene Farbplatte ist die mit pastoser Farbe erhaben aufgetragene Schicht der zweiten, benachbarten Farbfläche. Auch wenn ihr Farbton dem der transparenten Zone entspricht, erscheint Farbe hier in entgegengesetzter Weise: dicht und fest, stumpf und massiv bietet sie gleich einer sperrenden Farbwand keinerlei Einblick. Farbe zeigt sich hier als Material. Sie verschließt, was die lasierte Fläche öffnet; ihr Aneinanderstoßen ist dem Sehen ein Schnitt. – Gerade die vertikal geteilten Arbeiten werden durch diese Gegensetzung lesbar als architekturhafte Bilder, in denen das Räumliche als Zusammenhang von offenem Weiteraum und begrenzender Wand unmittelbar an wechselnde Farbwirkungen und -erscheinungen gebunden ist.

Die Fast-Identität der Flächentöne verleitet zu einem vergleichenden Sehen, dem Beobachten von Nuancen. Solches Sehen erkennt Verschiedenheit und Verwandlungen des ähnlichen, so daß Farbe in ihrem Zustandekommen, ihrer Materialität und Taktilität, ihrem Verhalten zu Licht und Umraum ein überraschend breites Spektrum möglicher Erscheinungsweisen entfaltet. Farbe – selbstverständliche, also unbeachtete Basis visueller Erfahrung – erweist sich als Realität im Bild und als Bildtatsache. Diese Vielfalt des Phänomens wie des Materials Farbe verwirklicht sich im beweglichen, mitvollziehenden Wahr-Nehmen dieser Bilder.