Jens Peter Koerver in: Die Farbe hat mich, Positionen zur nicht-gegenständlichen Malerei, Michael Fehr (Hg.), 2000 | Katalog

„Ich versuche einen roten Farbton zu finden, den ich noch nicht gesehen habe, und alles weitere ergibt sich im Prozeß.“

Ist es ein dunkles, verhaltenes Rot? Eher ein rötliches Braun, Kakao ähnlich? Kühl zudem durch eine leichte Rückung in tiefes Violett. Der Versuch, die Farbigkeit des Bildes BR-H3/99 von Raymund Kaiser genau zu sehen und zu beschreiben reichert das nur provisorisch mit dem Farbnotnamen „Braunrot“ Apostrophierte mit zusätzlichen Schattierungen, weiteren dissidenten Nuancierungen an. Solches verunsichertes Benennen bestätigt das Bestreben des Künstlers für jedes Bild einen neuen, gewissermaßen „unbekannten“, zumindest unvertrauten Farbton zu entwickeln. Kontrastiert wird die Uneindeutigkeit der widerstreitenden Farbeindrücke von der Klarheit des Bildaufbaues. Das 163,3 zu 103 cm messende Hochformat ist exakt hälftig in zwei horizontale Flächen geteilt. Auf zwei hart gegeneinander gesetzte Zonen reduziert, konzentriert sich diese Arbeit wie das gesamte Schaffen Kaisers ganz auf Erscheinungsweisen von Farbe. Bereits eine erste Annäherung an das Bild zeigt: „Einfachheit der Form ist nicht unbedingt das gleiche wie Einfachheit der Erfahrung“.

In der oberen Bildhälfte ist das Braunrot eine völlig homogene, erhaben auf dem Bildgrund liegende Farbplatte. Schwer und massiv mutet sie an, dicht und stumpf bietet sie den Anblick einer flächig erstreckten, die eigene Stofflichkeit betonenden Farbwand. Obwohl die untere Bildhälfte den Farbton der oberen Partie wiederholt, entfaltet sich der komplexe Braunton hier in ganz anderer Weise, als hochglänzende, sich doppelt verräumlichende Fläche. Zum einen zeigt sie ein deutliches, farbig getöntes, abgedunkeltes Teilspiegelbild des Umraums, des vor der Malerei stehenden Betrachters – und macht so den Ort des Bildes, dessen Gesehen-Werden zu einem irritierenden Aspekt der Arbeit. – Zum anderen überlagert dieses illusionistische, sich mit jeder Veränderung des Blickwinkels wandelnde Abbild die spezifische Farbräumlichkeit des rötlichen Brauns; sie resultiert unmittelbar aus dem Aufbau der Farbe in dieser Bildhälfte.

Zu ahnen sind die verschiedenen, am Zustandekommen der unteren Bildhälfte beteiligten Farben. Sie scheinen schwach als Abweichungen, Varianten des dominierenden Braunrot auf, unterminieren das Eindeutige und wirken in dieser Partie des Bildes als latente Farbspannung. Deutlicher sind die unterschiedlichen, die Bildfarbe konstituierenden Einzeltöne an der Schmalseite des Farbträgers in minimalen Spuren anlesbar. Das Braunrot der unteren, spiegelnden Bildhälfte ist aus diversen Rottönen – verschiedenen Magenta, Rubinlack, Echtrot Violett – und einer Lasur Chromoxyd Grün über einer ersten englischroten Gouache-Untermalung aufgebaut. Kaiser verwendet für diese Farbfindung hochlasierende Ölfarben, um durch die Überlagerung transparenter Einzelfarben allmählich zu seiner individuellen Farbigkeit zu gelangen. – Der farbige, sich dem Blick scheinbar öffnende „Spiegel“ liegt unterhalb der Augenhöhe des Betrachters, darüber befindet sich die den Einblick versperrende opake Bildhälfte. Diese verschließt, was die transparente Zone scheinbar öffnet; ihr Aneinanderstoßen ist dem Sehen ein Schnitt.

Die obere Partie, nach Fertigstellung der Lasurmalerei mittels eines Rakels als feste, kompakte Farbe in einem Arbeitsgang aufgetragen, wiederholt so exakt wie möglich die Farbigkeit ihres unteren Pendants; Kaiser selbst spricht Differenzen andeutend von einer „Kopie“. Dieses alla prima gemalte Braunrot entstand als rekonstruierende Nachmischung der subjektiv geprägten Farbigkeit im unteren Bildfeld, die in einem längeren, ganz von Neugier, Interesse und Empfinden des Künstlers bestimmten Annäherungsprozeß gewonnen wurde. Mit der Reprise entsteht, auch durch deren andersartige Genese und Materialität, ein objektivierendes, Distanz schaffendes Gegenstück zur persönlich geprägten Farbfindung der Lasurmalerei.

Ähnlich objektivierend ist die Ausrichtung der Formatproportionen des Bildes BR-H3/99 – wie auch einiger anderer neuerer Arbeiten – am Goldenen Schnitt. Das Gesamtformat wird infolgedessen als stimmig und angenehm, zumindest nicht als auffällig bemessen empfunden, wie auch seine Halbierung als einfache und klare Lösung unmittelbar nachvollziehbar ist. – Ältere Arbeiten weisen freie, manchmal extrem divergent proportionierte Flächenteilungen auf. Bei horizontaler Teilung stellten sich landschaftliche Assoziationen, bei vertikalen architektonische Vorstellungen von Wand und Raumöffnung ein. – Die Entscheidung für das traditionelle Maßsystem des Goldenen Schnitts und die mittige Teilung enthebt von Überlegungen zur Flächenponderation und schaltet andere Assoziationen zugunsten der Wahrnehmung der Farbe aus.

Alle Arbeiten Raymund Kaisers sind in außerordentlich hohem Maß von den Bedingungen unter denen sie gesehen werden abhängig. Die Faktoren Licht, Umraum und Blickwinkel des Betrachters bestimmen wesentlich das jeweils sichtbare Bild. Jede einzelne der transparenten, übereinander liegenden Schichten reagiert auf bestimmte Lichtwellen, entsprechend stark veränderlich ist die Farberscheinung der in Lasuren aufgebauten Partie. In Relation zu der in dieser Hinsicht stabileren oberen Bildhälfte kann sich, bei entsprechenden Lichtverhältnissen, der Eindruck einer Aufspaltung der Bildfarbe in zwei nur entfernt verwandte Rotbrauntöne einstellen. Ebenso erweist sich bei der Erprobung verschiedener Betrachterstandorte die Intensität der Spiegelung als wandelbar. Aus sehr spitzem Winkel kann sie sich völlig verlieren und zur nahezu vollständigen Gleichheit der beiden Bildpartien führen.

Aus der Gleichzeitigkeit von Identität – dem nahezu gleichen Farbton beider Bereiche – und Differenz – ihrer denkbar verschiedenen Farberscheinung – erwächst eine stille, die Arbeit prägende Grundspannung. Das eigentümliche, zwischen Nähe und Ferne oszillierende Verhältnis der beiden Farbzonen verleitet zu einem sich zwischen Vergleich und Analyse einerseits und schweifender Schaulust andererseits bewegenden Wahrnehmen. Solches Sehen bemerkt Verschiedenheit und Verwandlungen des Ähnlichen, so daß Farbe in ihrem Zustandekommen, ihrer Materialität und Taktilität, ihrem Verhalten zu Licht und Umraum ein überraschend breites Spektrum möglicher Erscheinungsweisen entfaltet. Diese Vielfalt des Phänomens wie des Materials Farbe verwirklicht sich im beweglichen, mitvollziehenden Wahrnehmen des Bildes. Es entsteht sukzessiv als Summe seiner möglichen Erscheinungsbilder.

1 Raymund Kaiser im Gespräch mit dem Autor am 25.9.1997
2 Robert Morris, Anmerkungen über Skulptur (1966-67), in: Gregor Stemmrich (Hrsg.), Minimal Art. Eine kritische Retrospektive, Basel, 1995, S.100.