Im Bilde Sein | Karin Stempel | Einführung zur Ausstellung „Gegenlicht„, Städtische Galerie Borbeck, 2014

„In unserer heutigen von Medien dominierten Gesellschaft scheint es immer wichtiger zu sein, dass man im Bilde ist.“

Im Bilde sein meint dabei – abweichend von der ursprünglichen Bedeutung – eine gewisse Medienpräsenz zu haben, die die Teilhabe an bestimmten communities und social networks ermöglicht, deren Datenströme für die meisten von uns nicht nur zu einem festen Bestandteil der täglichen Routine geworden sind, sondern geradezu als unverzichtbares Lebenselexier und Fluidum funktionieren.

„Im Bilde sein“ wird dabei zunehmend gleichbedeutend mit Sein, einem Sein, dass offensichtlich der Bestätigung durch das Bild bedarf, um wirklich zu sein. Was zuweilen manisch in einer narzistischen Selbstbespiegelung eskaliert – mit unabsehbaren Folgen –, scheint mehr und mehr die einzige Möglichkeit zu sein, überhaupt wahrgenommen zu werden – von anderen ebenso wie von sich selbst – und vielfältige gesellschaftliche Aktionen und Transaktionen wahrnehmen zu können.

Als Bild zu sein, heißt also, sich selbst wahrnehmen zu können, selbst wahrgenommen zu werden und selbst anderes wahrnehmen zu können. Sind wir damit im Bilde – oder sind wir damit nur im Netz – einem Netz, dass wir selbst ausgelegt haben, um uns unweigerlich darin zu verfangen?

Auf alle Fälle befinden wir uns in einer Schwellensituation, in der das, was Bild heißt, einer gründlichen Hinterfragung bedarf und es möglicherweise an der Zeit ist, neue Parameter dafür zu entwickeln, was heute Bild ist oder Bild sein kann. Dass dies schon lange keine kunstimmanente Fragestellung ist, die sich nur für Künstler, Kunsthistoriker oder Bildwissenschaftler stellt, sondern uns alle betrifft, ist, glaube ich, offensichtlich.

Bild ist heute ganz wesentlich eine Schnittstelle, die nach beiden Seiten hin offen ist. Im Bild öffnet sich uns ein Raum, um zu sein, aber unter Rahmenbedingungen, in denen unser Ausblick zugleich Einblick gibt – windows – nomen est omen – funktioniert eben in der Tat wie ein Fenster, das sich in den Raum hinein öffnet und dabei gleichzeitig transparent ist. Doch was öffnet sich wem und um welche Transparenz geht es dabei eigentlich – die vor dem Bildschirm oder die hinter dem Bildschirm und wer beobachtet wen oder was beobachtet uns?

Sind sie im Bilde oder sind sie als Bild?

Angesichts der Arbeiten von Raymund Kaiser erscheint diese Frage irrelevant, denn dabei sind sie immer als Bild im Bilde. Egal ob sie sich schon beim Betreten der Ausstellung in der grossen Wandinstallation immer wieder mit ihrem flüchtigen Spiegelbild konfrontiert sahen oder ob ihnen beim Blick auf die Bilder immer wieder an irgendeiner Stelle ihr schemenhaftes Konterfei entgegenblickte – ihr Bild ist unumgänglicher Bestandteil dieser Bilder, die sie nur dann wahrnehmen können, wenn sie sich gleichzeitig dabei selbst wahrnehmen – im Bild und als Bild.

Raymund Kaisers Arbeiten sind im wahrsten Sinne des Wortes Reflektionen über das, was Bild ist. Und indem er dabei das reflektierte Bild in seine Reflektionen einbezieht, stehen sich nicht nur Bild und Betrachter gegenüber, sondern zwei unterschiedliche Präsenzen – das gespiegelte und das gemalte Bild, deren verschiedenartigen Projektionsräume sich durchkreuzen und ineinander brechen. Bei diesen Arbeiten ist der Betrachter nicht nur im Bild, sondern in ganz besonderem Maße gilt hier: „Was wir sehen blickt uns an“ – so der Titel eines Buches von GEORGES DIDI Hubermann über die Metapsychologie des Bildes.

Was wir sehen blickt uns an – das Bild wird zu einem Gegenüber, dass in dem Maße wie wir in es eindringen, es in uns eindringt. Eigentümliche Verschränkung von implodierender und explodierender Nähe, die im Bild zum Stillstand kommt. Wie verlockend wie Alice durch den Spiegel zu gehen, in eine parallele Welt einzutreten, einer Welt des Imaginären, in der alles möglich erscheint, wie verlockend sich ganz dem Zauber der schier grenzenlosen und so außergewöhnlich delikaten Farbräume hinzugeben, in sie einzutauchen und ganz in ihnen aufzugehen. Doch in der abgründigen Tiefe dieser Brillianzen erkennen wir im durchscheinenden Grund uns selbst. Das reflektierte Bild wirft uns nicht nur auf uns selbst zurück, sondern wirft gleichzeitig einen Schlagschatten auf die Untiefe des Imaginären, das plötzlich ganz körperlich und körperhaft die Illusion als Illusion erkennbar werden lässt – als Gegenlicht.

Etwas ist hier geschehen.

Anläßlich einer raumbezogenen Arbeit von Raymund Kaiser habe ich vor vielen Jahren geschrieben: „Bild, das ist zunächst einmal eine Farbfläche, die sich aus unterschiedlichen Schichten, Untermalungen und Lasuren aufbaut, und stets in sich die beiden Seinsformen von Farbe in sich beinhaltet. Farbe ist Körper und Haut, eine deckende Substanz, die alles in sich aufgenommen zu haben scheint und absorbiert, stumpf und in sich ruhend. Hermetisch in sich verschlossene Farbflächen wirken wie in sich versiegelt, gesättigt und wie raumlos – ganz bei sich.
Demgegenüber stehen in den meist in zwei Farbfelder unterteilten Arbeiten Flächen, in denen Farbe wie freigesetzt ist und sich im Raum zu verstrahlen scheint – ungebunden und wie schwerelos, glänzendes farbiges Licht, das nicht genau zu orten ist.“

Dies trifft sicher auch immer noch auf die Arbeiten von Raymund Kaiser zu, die sie in dieser Ausstellung sehen, auch wenn sich Bildträger und Farbsubstanzen verändert haben: Transparentpapier, Spiegelfolie, Spiegel – entstofflichte Bildträger ohne jegliche Textur, offen und dennoch in sich verschlossen –, Lackmarker, hochflüssige Lacklasuren, die sich wie durchlüftet federleicht übereinander legen, gegenüber wächsernen Farbpasten, die zähflüssig mit der Rakelschiene aufgetragen, aus- und abbrechen, signalisieren eine neue Offenheit, indem dem Wechselspiel zwischen Planung und Zufall schon im Entstehungsprozess dieser Arbeiten eine bedeutende Rolle zukommt – bis zu dem Punkt, an dem dieses Agieren und Reagieren zum wesentlichen Merkmal des Entfaltungsprozesses der Arbeiten in Erscheinung tritt. Im Dialog mit dem Umfeld, dem Umraum, dem Betrachter wandeln sich die Arbeiten in einer unausgesetzten Metamorphose, in der die Gestaltung immer wieder aufs Neue eine neue Gestalt annimmt. Der entscheidende Unterschied ist, die Integration des reflektierten Bildes in das Bild.

Etwas ist hier geschehen.

Lichtstrahlen, die von spiegelnden Flächen zurückgeworfen werden, Lichtstrahlen, die wie eingebettet der Farbmaterie verhaftet sind, versiegeln undurchdringbar die unerreichbare Ferne, die gleichwohl immer wieder in Erscheinung tritt – jedoch nicht als Bild, sondern als Erscheinung.

Flüchtig wie das Spiegelbild ist diese Ferne sowohl Leere als auch Fülle. So wie der Spiegel unser Bild nicht festhält, sobald wir ihm nicht mehr gegenüber stehen, so erlischt die Dynamik der Farbräume in ihrer materiellen Bindung. Dem durchscheinenden Grund verhaftet, sind die Spiegel leer und blind.

Sie müssen sich selbst ein Bild davon machen – nur so wird es ihnen gelingen auch als Bild immer im Bilde zu sein.