Gegenlicht — Peter Lodermeyer | Katalog GEGENLICHT, MAM Kunstverein, 2021

Spätestens seit seiner Präsenz in dem im Jahr 2000 von Michael Fehr herausgegebenen Buch ‚Die Farbe hat mich‘, sind die Arbeiten von Raymund Kaiser immer wieder im Umfeld der Farbmalerei gesehen, ausgestellt und besprochen worden. Wenn Farbmalerei die malerische Artikulation von Farbe als Farbe, von Farbe als Farberscheinung und/oder als Material bedeutet (im Englischen leichter zu bezeichnen mit color und/oder paint), dann sind Kaisers Arbeiten in diesem Feld gut zu verorten, denn Farbwirkung und Farbmaterial sind stets wichtige Parameter seiner malerischen Untersuchungen gewesen. Schaut man sich seinen Beitrag in Die Farbe hat mich noch einmal an, ein braunrotes Hochformat mit dem Titel BR-H3/99 von 1999 (S. 7), dann fällt auf, dass Kaiser bereits dort die Dualität von matter und glänzender Fläche beziehungsweise von Opazität und Transparenz der Farbe thematisiert hat – ein Thema, das auch heute noch immer die Grundlage seiner Arbeit ist. Dennoch hat sich der Fokus – nicht zuletzt auch durch das Experimentieren mit installativen Formaten – mittlerweile deutlich verschoben. Farbe ist nicht mehr das alleinige Thema; die Aufmerksamkeit des Künstlers gilt nun besonders auch den Faktoren Reflexion, Raumwirkung und – wie der Titel dieser Publikation andeutet – der besonderen Lichtwirkung, die sich in seinen Arbeiten bemerkbar macht.

In dem erwähnten Gemälde von 1999 teilen die beiden Zonen das Bildfeld in zwei gleich große Rechtecke. Zudem ist eine ‚Ausrichtung der Formatproportionen des Bildes (…) am Goldenen Schnitt‘ 1 zu bemerken. Damit ist also die doppelte Artikulation von Braunrot in ein anschauliches geometrisches Gefüge gespannt. So wie Raymund Kaiser als Autor des Bildes den in lasierenden Lackfarben erarbeiteten und mit einer glänzenden Lackschicht versiegelten Farbton mittels der Übermalung in Öl in möglichst großer Annäherung als ‚Kopie‘ 2 nachschafft, so ist der Betrachter dazu aufgefordert, die Spiegelungen im unteren, glänzenden Bildteil als Irritation der Farbe zu begreifen und durch die Wahl eines Standortes, von dem her die ‚störenden‘ Reflexionen minimiert sind, beide Farbzonen auch visuell in größtmögliche Übereinstimmung miteinander zu bringen. Somit ist also die zweifache Erscheinung von Braunrot auf der Produktions- wie auch der Rezeptionsebene das eigentliche farbmalerische Thema dieser frühen Arbeit. 

Schaut man sich nun ein beliebiges späteres Gemälde an, etwa BR-H1 (240214) von 2014 (S. 4), so sieht man schon auf den ersten Blick, in welche Richtung sich Kaisers Bildbegriff in der Folge weiterentwickelt hat. Aus der streng horizontalen Teilung der Felder ist ein irregulärer, ein wenig an zerklüftete Küstenlinien erinnernder Grenzverlauf geworden. Drei dunkelbraune Farbinseln stehen nun, von den Bildrändern abgeschnitten, als Figuren auf lackversiegeltem glänzenden Grund. Ihr unregelmäßiger Konturenverlauf steht in starkem Kontrast zu den vertikal-horizontalen Bildgrenzen und erhöht außerdem den Gegensatz zwischen der transparent-spiegelnden Lackfarbe und der opaken Ölmalerei. Zugleich sieht man, dass die strenge (approximative) Monochromie von 1999 inzwischen aufgefächert wurde. Monochrom ist nur noch die homogen aufgerakelte zweite Farbschicht. In dem glänzenden, lackversiegelten Feld hingegen zeigt sich eine wolkige, vibrierende Helldunkelmalerei. 

Die Tendenz, die ursprüngliche, konzeptionell rigide Bildanlage malerisch aufzubrechen, erreicht dann mit den Gemälden der letzten beiden Jahre nochmals eine deutliche Steigerung. Eine Arbeit wie BLROS-H1 (S. 12) von 2021 zeigt nun auf beiden Bildebenen ein von Verwischung und Vermalung gekennzeichnetes Miteinander von Blau und Rosa. Zudem ist die nachschaffende, die Farbigkeit der Lasuren ‚kopierende‘ Ölmalerei nicht als glatte Schicht aufgerakelt, sie zeigt vielmehr dynamische Arbeitsspuren mit Spachtel oder Palettmesser. Das Bild erweist sich, gemessen an Kaisers ursprünglich farbmalerischer Bildkonzeption, als überraschend expressiv, dynamisch und ‚persönlich‘. Die neuen Arbeiten zeichnen sich also durch eine verstärkte Betonung der sinnlichen Qualitäten der Malerei aus, einhergehend mit einer gewissen Abschwächung des konzeptionellen Ansatzes. ‚Sinnlich‘ meint hier nicht nur die delikaten, von unzähligen Nuancen und Übergängen geprägte Farbverläufe, die das Auge, anders als die frühere Quasi-Monochromie, kaum mehr in allen Details erfassen kann, sondern auch die cremige Materialität der pastos aufgetragenen Ölfarbe. 

Man darf vermuten, dass Raymund Kaiser die peinture in seinen Bildern neuerdings umso stärker betont, als er im Gegenzug, auf einer zweiten Schiene seiner künstlerischen Produktion, die konzeptionelle Seite seines Ansatzes desto rigoroser verfolgt – interessanterweise unter Absehung von der Farbe selbst. Gemeint sind hier die Zeichnungen mit silbernem Textmarker auf Transparentpapier unter dem Titel TransMark, vor allem aber die seit 2013 realisierten Installationen mit Leichtstoffplatten, die mit silbernem Spiegelkarton kaschiert und ebenfalls mit silberfarbenem Permanentmarker bezeichnet sind. Die Oberfläche dieser ‚Spiegel‘ ist leicht strukturiert, sodass die Reflexionen unscharf oder verschwommen ausfallen. Die mit dem Marker bezeichneten Stellen wirken stumpf und weitgehend reflexionsfrei, sodass auch hier die alte Dualität zwischen spiegelnder und opaker Fläche wieder zum Tragen kommt. Der Duktus der flächigen Markerstriche, der sich zu irregulär konturierten Formen addiert, ist deutlich abzulesen. Duktus, Fläche und Form, Figur und Grund, diese Grundgegebenheiten – Kaiser nennt sie das ‚Skelett der Malerei‘ – rücken nun in den Fokus und werden ausschließlich mit der Nicht-Farbe Silber vorgeführt. 

Bei den Installationen stehen die Reflexionseigenschaft des beschichteten Kartons und die sich daraus ergebende Bildräumlichkeit thematisch im Mittelpunkt, ebenso das spezifische Bildlicht, das sich darin zeigt. Farbe kommt nur dann ins Spiel, wenn die Betrachter sie, zum Beispiel mit farbiger Kleidung, ins Erscheinungsbild der Installationen einbringen. Es ist bemerkenswert, dass dies alles schon in den Tafelbildern vorgedacht war. Anders als in dem frühen Bild von 1999 wird die Spiegelung in den Arbeiten mit unregelmäßig umrissenen Farbzonen nicht mehr als Irritation des ‚eigentlichen‘ Farbtons wahrgenommen, sondern als ein illusionistischer Bildraum, der sich – abhängig von der spezifischen Lichtsituation und dem gewählten Betrachtungsstandort – öffnet oder auch verschließt. Diese Öffnung erscheint als virtuelle Räumlichkeit, die sich hinter dem Bild aufzutun scheint, beleuchtet von einem scheinbar ebenfalls hinter der Bildebene aufscheinenden Licht. Durch die opaken Farbzonen wird diese lichthafte Öffnung verdeckt; sie stehen gleichsam im Gegenlicht, wenn man den Begriff laut Wörterbuchdefinition als ‚entgegen der Blickrichtung des Betrachters strahlendes Licht‘ versteht, ‚dessen Quelle [durch das betrachtete Objekt] verdeckt ist‘.3 

Was in den Gemälden bereits latent angelegt war, kam 2013 in potenzierter Form mit der Installation reflect im Kunstverein Mönchengladbach zum Tragen. Als breitformatige Wandfläche aus 60 Spiegelplatten trug diese Installation visuell zu einer enormen Raumerweiterung bei, wobei man als Betrachter qua Spiegelung unweigerlich mit in die unscharf reflektierte räumliche Öffnung des Bildes einbezogen und durch die gemarkerten stumpfen Partien partiell überdeckt wurde. 2014 realisierte Kaiser zwei kleinere Installationen in der Städtischen Galerie Schloss Borbeck und in der Städtischen Galerie Villa Strünkede in Herne (S. 28). Das Besondere dabei war die Anordnung der Platten an zwei im rechten Winkel zueinanderstehenden Wänden, sodass man Spiegelungen der Spiegelungen sehen konnte. 

Mit der Installation Fluchten in der Kölner Galerie Floss und Schultz im September 2021 radikalisierte Kaiser dieses Konzept, indem er einen Raum im Raum konstruierte, der an allen vier Seiten mit seinen gemarkerten Platten besetzt war, sodass man sich beim Betreten sogleich einer unabsehbaren Zahl von gespiegelten Spiegelungen ausgesetzt sah. Da auch der Boden mit Spiegelplatten ausgelegt war, verdoppelten sich die Reflexionen noch, sodass man sich in diesem mise en abyme der Reflexionen von Reflexionen von Reflexionen und so weiter keine Spiegelungslogik, keine rational nachvollziehbare visuelle Struktur mehr rekonstruieren konnte und von der Überfülle der Erscheinungen geradezu überfordert war. Dabei konnte man die paradoxe Erfahrung machen, zwar der Mittelpunkt der Installation, zugleich aber völlig fragmentiert und in eine Unzahl von reflektierten Abbildern zersprengt zu sein, die zugleich noch durch die absorbierenden Stellen der gemarkerten Flächen weiter fragmentiert wurden. Dieses Paradox wurde durch das Körpergefühl, visuell den Boden unter den Füßen zu verlieren, auf dem man doch spürbar stand, also mitten im Spiegelungsraum zu schweben, noch verstärkt. Je nach Stimmung und Mentalität kann diese ungewohnte Art der Selbstwahrnehmung als faszinierend oder auch beängstigend erfahren werden. Die zugleich eingespielten elektronischen Sounds und gesprochenen Satzfragmente, die der Kölner Komponist Stefan Thomas beigesteuert hat, erschienen dem Betrachter wiederum wie Spiegelungen oder externalisierte Projektionen der eigenen, noch ungeordneten Gedanken und Gefühle beim Erleben des Kunstwerks. 

Bibelkundige Besucher und Besucherinnen der Installation werden in vereinzelten Phrasen wie ‚durch einen Spiegel‘ und ‚von Angesicht zu Angesicht‘ vielleicht den bekannten Vers 13,12 im 1. Korintherbrief identifiziert haben, in dem es heißt: ‚Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunkeln Wort; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich’s stückweise; dann aber werde ich erkennen, gleichwie ich erkannt bin.‘ Hier sind also die Themen Spiegelung und Fragmentierung angesprochen – ‚stückweise‘ wurde auch das Bibelzitat selbst dargeboten, begleitet von glöckchenartigen elektronischen Klängen in Zufallsanordnung. Im zitierten Vers des Paulusbriefes wird die Hoffnung auf ein ungetrübtes Erkennen und Erkanntwerden ausgesprochen, das jedoch auf das Jenseits verschoben wird. Damit scheint in Kaisers Installation das uralte Thema des Spiegels auf, den man sich selbst oder anderen vorhält, um zur Erkenntnis der Wahrheit zu gelangen. Dass wir jedoch im Hier und Jetzt, auch wenn wir in der Wahrnehmung ganz auf uns selbst zurückgeworfen werden, nie eine reine Selbst- und Wahrheitserkenntnis haben können, wird in Fluchten sehr deutlich gemacht. Als reale Personen im virtuell vervielfältigten, nach allen Seiten hin fluchtenden Spiegelraum können wir uns nur sehen, indem wir zugleich Teile des Gesamtgefüges verdecken. Wir stehen für uns selbst immer im Gegenlicht. 

1 Jens Peter Koerver, „Ich versuche einen roten Farbton zu finden, den ich noch nicht gesehen habe, und alles Weitere ergibt sich im Prozess.“, in: Michael Fehr (Hrsg.), Die Farbe hat mich. Positionen zur nicht-gegenständlichen Malerei, Essen 2000, S. 121–124, Zitat S. 123.

2 Ebd.

3 Duden online, Stichwort „Gegenlicht“, www.duden.de/rechtschreibung/Gegenlicht (abgerufen am 17.10.2021).