„was uns die Sicht verbarg, / war das Sichtbare“ | Jens Peter Koerver | Katalog “Lichtwechsel”, Stadtmuseum Siegburg, 2015

Wer die Bilder Raymund Kaisers sieht, sieht sich selbst, sieht sich selbst zu beim Sehen, ist zugleich Zuschauer und Betrachter. Mehr oder weniger stark spiegelnde Farbflächen reflektieren den Raum vor dem Bild. Und zugleich verbergen diese Spiegelungen (ein Stück weit) das Bild selbst. Es verschwindet partiell hinter den an seiner Oberfläche entstehenden Augenblicksspiegelungen, sie verdecken, was das Bild ist, und sind zugleich ein Teil desselben. Mit diesen verlockenden Spiegelungen muss sich arrangieren, wer sie sehen will – was auch Spiegelungen der eigenen Person betrifft. Möchte man dem eigenen Spiegelbild zuschauen, möchte man sich selbst (vorübergehend) als Teil des Bildes sehen, zusammen mit dem Umraum? Oder soll alles das so weit wie möglich ausgeblendet werden, das Augenmerk dem Bild selbst gelten? Oder gehört das eine unabdingbar zum anderen? Unwillkürlich gerät die Annäherung an die Malereien Kaisers zu einer Suche nach dem richtigen Standpunkt, dem besten Blickwinkel, mithin zu einem Selbstversuch des eigenen Sehens mit dem Bild und zu einer Reflexion über das Bild selbst.

Die Spiegelungen verdecken das Bild, die Malerei. Und doch zeigt sie sich, mal mit den Reflexionen verschränkt, an anderen Stellen ganz unverstellt und unmittelbar. Dabei ist vom ersten Blick an ersichtlich: Es geht um Farbe, um Farbe in ihrer Farbigkeit und um Farbe als Erscheinung, als Material.

Zweierlei Farbe zeigen die Bilder. Zunächst ist es die der Spiegelungen. Hochglänzend, die Bildfläche gleichmäßig, vollständig bedeckend, zeigt sie sich als Summe verschiedener Farben. Das bräunliche Schwarz der großformatigen Malerei besteht aus diversen Bestandteilen, selbst die Helligkeit von Silber ist noch zu erahnen. Ihr Zusammenspiel führt zu einem leichten Farbflackern, einer verhaltenen Unruhe, einer leisen Vibration, deren Deutlichkeit und Intensität in jeder Malerei anders formuliert ist. Und doch mündet diese Farbdiversität in einen bestimmten Ton, sie wird als etwas Rötliches, als ein Blau wahrgenommen. Stets sind es Nuancen, Farbe zwischen den Farben. Genau zu benennen sind sie nicht, umso anziehender sind sie als unvertraute, artifizielle Erscheinungen im Spektrum des vermeintlich selbstverständlichen, wohlbekannten Farbigen. Die Wirkung dieser spiegelnden Farbenflächen, zu der auch der Eindruck von Tiefe und Transparenz gehören, verdankt sich der lasierenden Schichtung unterschiedlicher Lackfarben, die Kaiser in einem längeren Arbeitsprozess mit breitem Pinsel auf den liegenden Bildträger aufträgt.

Der Blick auf die Malereien Kaisers gilt nie allein dieser spiegelnd-veränderlichen Farbigkeit. Mit ihr zusammen, mit ihr untrennbar verbunden ist stets eine andere Farbe zu sehen. Sie ist als eine opake, matte Farbmaterie über Teile des reflektierenden Grundes gelegt. Meist von den Rändern her schiebt sie sich in die suggestive, veränderliche Spiegelung, stört den auf sie gerichteten Blick – oder wird als eine Zone der Stabilität, des Halts wahrgenommen. Wie auch diese flächig ausgebreitete Farbe auf die Flächigkeit des Bildes verweist. Mit ihr kommt die Faktizität des Bildes und der Malerei ins Spiel. Als schiere, in nichts über ihr Sosein hinausgehende materielle, flächige Form bricht sie den schwelgerischen Illusionismus der Spiegelung und verschärft die Frage nach dem Bild, nach dem Sichtbaren, indem sie selbst pure, nüchterne, unveränderliche Sichtbarkeit ist.

Diese stoffliche, homogene Farbe rahmt die des Grundes, fasst sie (zumindest teilweise) ein und wiederholt sie als eine Art Farbkonzentrat, indem sie als ein Ton, als Monochrom die Farbigkeit des Grundes spiegelt und zusammenfasst. Mitunter mutet dieser eine Farbton wie eine fast willkürliche Festlegung aus einem Spektrum möglicher anderer Nuancen an. Tatsächlich ist diese Einzelfarbe die subjektive Wahl des Künstlers, mit der er einen ihm ins Auge fallenden farblichen Aspekt betont und einen bestimmten Gesamtklang des Bildes erzeugt. Diese zweite Farbebene entsteht in Reaktion auf den Lackgrund. Ist dieser angelegt, mischt Kaiser den wiederholenden, den anderen Ton aus Ölfarbe und trägt ihn mit einem Rakel in mehreren Malzügen auf das senkrecht an der Wand hängende Bild auf, was auch die organisch anmutende Formung dieser Farbe erklärt.

Als konsequente Fortsetzung der Möglichkeiten, die sich aus der Beschäftigung mit den spiegelnden Lackoberflächen ergaben, kann Raymund Kaisers 2009 beginnende Verwendung von handelsüblichen Spiegeln als Malgründen verstanden werden. Der Arbeitsprozess entspricht dem für die Malereien beschriebenen. Noch klarer und brillanter – und damit noch präsenter – sind die wie in farbiges Licht getauchten, irreal anmutenden Spiegelbildpartien dieser Arbeiten. Entsprechend schärfer fällt der Gegensatz von Reflexion und opaker Farbsetzung aus. Verglichen mit den anderen Malereien ist die Ölfarbe energischer, das Spiegelbild stärker einschränkend, zurückdrängend eingesetzt. Unausweichlich ist hier die Spiegelung, sie ist nicht auszublenden. Die Frage nach dem Bild, seiner (Un)Sichtbarkeit stellt sich mit diesen Malereien auf Spiegeln mit einer verschobenen Akzentuierung. Eine Antwort darauf resultiert aus der individuellen, sich mit diesen Werken (wie von selbst) ergebenden Praxis des Sehens.

Die 2007 einsetzenden Arbeiten mit silbernem Lackmarker erweitern Raymund Kaisers bislang ganz auf die Malerei konzentriertes Werk um eine zeichnerische Option. Seine Zeichnungen – sowohl auf Transparentpapier wie auf den Spiegelkartonmodulen der groß dimensionierten Installationen – entwickeln sich aus einzelnen Linien. Die Linien sind tendenziell gleich gerichtete, mit dem Schwung der zeichnenden Hand ausgebreitete Schraffuren auf Spiegelkarton und in den Transparentpapierblättern Strich für Strich gesetzt, sie variieren ständig Verlauf, Stärke und Richtung, ergeben unterscheidbare Zonen und Areale, die ineinandergreifend, aneinandergrenzend zusammen eine geschlossene Großform aus silbergrauer Farbe bilden.

Mit dem Silber des Lackmarkers hat sich Raymund Kaiser erstmals für den Gebrauch einer fertigen Farbe entschieden. (Wenn dieser Metallton im strengen Sinne überhaupt Farbe ist – wo wäre sein Platz im Spektrum?). Im Gegensatz zu den Malereien, für die er eine jeweils bildspezifische individuelle Farbigkeit entwickelt, greift er für seine Zeichnungen und Installationen auf einen einzigen vorproduzierten Ton zurück. Dieses stoffliche, kühl-technische Silber ist – anders als das mittels kunstvoller Graunuancen Silber imitierende der traditionellen Malerei – eine relativ junge Farbe, die in der Geschichte der Malerei kaum Referenzen hat, die unbelastet, bedeutungsfrei ist.

Die Lackmarkerzeichnungen auf Transparentpapier verzichten auf einen spiegelnden Grund. Anders als alle sonstigen Mal- und Zeichengründe Raymund Kaisers ist dieses Papier matt, es bleibt passiv, zurückgenommen, ist fast gewichtslos. Mit etwas Abstand zur Wand montiert, im unteren Bereich nicht weiter fixiert, ist es verhalten lichtdurchlässig, sodass sich sein Weißton sichtlich verändern kann. Als lichthaltiger Grund korrespondiert es mit dem aktiv Licht verarbeitenden Silberlack der Zeichnung. Und es ist die Fläche, auf der der Prozess der allmählichen Formation der Einzelstriche zu einem Formganzen stattfindet. Diese Gesamtform tendiert in allen Blättern dazu, sich von der oberen Blatthälfte aus nach unten hin schmaler zu werden, gleich einem Farbstrom, der sich, der Schwerkraft folgend, ausbreitet. Ist der obere Abschluss dieser Großform identisch mit der Blattgrenze, so ist ihr unterer Umriss geprägt von Buchten und Durchbrüche, von unruhigem Vor- und Zurückspringen, unterschiedlich weiten Expansionen ins Papierweiß, Kurven und Auszackungen. Diese frei im Prozess des Zeichnens entwickelten, weder absehbaren noch geplanten Formen erinnern an Küstenverläufe, die Grenzen eines unbekannten Kontinents, wie überhaupt geologisch-kartographische Vorstellungen ein die Betrachtung durchziehendes, jedoch nie dominierendes Assoziationscontinuo bilden.

Obwohl die gezeichnete Linie der Modus des Farbauftrags ist, können dieser Arbeiten auch malerisch aufgefasst werden, wozu wesentlich das Aufgehen der linearen Details in flächigen Formkomplexen beiträgt. Malerisch erscheinen diese faktisch monochromen Flächen, da sich – vor allem in den Arbeiten auf Transparentpapier – die eine Farbe breit auffächert; von stumpfem, dunklem Grau bis zu hin zu leuchtendem Glanzsilber reichend, ist sie einer einfarbigen, mittels lebhaft bewegter, virtuoser Pinselarbeit ausgeführten Malerei vergleichbar. Diese Binnenvarianz des Silbers ist in ihrer jeweils aktuellen Erscheinung abhängig vom Blickwinkel, der Lichtsituation. Mit jeder Veränderung des Augenpunktes, schon bei einer minimalen Drehung des Kopfes und erst recht bei größeren Bewegungen im Raum, mit jedem Lichtwechsel zeigt sich diese silberne Fläche anders, treten einzelne Zonen zugunsten anderer zurück, verschieben sich Hell und Dunkel, stellt sich das wie ein Relief erscheinende Ganze räumlich verändert dar. Einmal entdeckt, verleitet diese Ahnung einer Vielzahl möglicher Erscheinungen zu einem das ganze Spektrum der Bilder eines Bildes erkundenden Sehen. Einem Sehen, das schließlich einsieht: Dieses eine Bild ist nicht vollständig zu haben, was zu sehen ist, sind Augenblicksansichten, quecksilbrige Erscheinungsbilder. Das einzelne Werk ist nicht ein stabiles, seine Identität beharrlich wahrendes Bild. Was im eigentlichen Sinne Bild genannt werden kann, ist vielmehr die Summe seiner möglichen, veränderlichen Erscheinungen.

Den Lackmarker der allenfalls mittelformatigen Zeichnungen auf Transparentpapier verwendet Raymund Kaiser auch zur Bearbeitung der Module seiner Rauminstallationen. Auf den silbrig, weich den Umraum reflektierenden Spiegelplatten zeichnet er ausgreifender, mit einem die Prägnanz der Einzellinie zurücknehmenden Gestus. Die entstehenden Formen lassen große Teile des Grundes sichtbar. Spiegelnde Partien und die gezeichneten, nichtspiegelnden verhalten sich zueinander wie die glänzend-reflektierenden Farbenflächen zu den gerakelten, opak-einfarbigen Übermalungen der Bilder. In welchem Maß und mit welchen Schwerpunkten diese gezeichneten, also nicht mehr spiegelnden Zonen als Blicksperren, als Spiegelbildstörungen und Perforationen eines kontinuierlichen, illusionistischen Bildraums wirken, entscheidet sich erst mit der Installation der Module. Ihre Anzahl ergibt sich aus den Möglichkeiten des Raums, ebenso ihre Anordnung, die auf eine einzelne Wand beschränkt sein oder, reizvolle, verwirrende Mehrfachspiegelungen erzeugend – über Eck erfolgen kann. Stets werden die Module dicht an dicht montiert, sie bilden eine nur vom Raster der Stoßkanten gegliederte Fläche. Die Auswahl der Tafeln und ihre Abfolge ergaben sich im Falle der Siegburger Installation durch eine kaum Korrekturen erfordernde Zufallsentscheidung, können bei anderer Gelegenheit aber wieder das Resultat sorgfältiger Planung, längerer Versuche sein.

Die „Lichtwechsel“ genannte Installation nimmt eine Wand ein – und umfasst doch den ganzen Raum; wandfüllend hat sie (wie selbstverständlich) ihren Ort gefunden. Als großflächige, wenn auch nicht tiefenscharfe Spiegelung zeigt sie ein Bild des Raums, das weniger Details als vielmehr die aktuelle Lichtsituation und summarisch die Farbigkeit des Ortes wiedergibt. Die Installation deutet eine Raumweitung als Möglichkeit an, stärker aber noch ist die Verschränkung mit dem Gegebenen. Einerseits weitet ihre Helligkeit die gesehene, die empfundene Dimension des Raums. Andererseits bleibt „Lichtwechsel“ ein materielles Gebilde, entwickelt nicht die suggestive Durchsichtigkeit hochbrillanter Spiegel, zumal die zeichnerischen Eintragungen die verhaltenen Reflexionen dieser Spiegelplatten diskret aber wirksam stören. Die gezeichneten matt-silberne Zonen durchkreuzen die Räumlichkeit des Spiegelbildes flächig und führen so den Blick zurück auf die Bildlichkeit des Spiegelbildes, auf den kaum trennbaren Komplex von Licht, Farbe und Raum – und den immer schon in diesen Zusammenhang verwickelten Betrachter – als fundamentalen Aspekten aller Wahrnehmung.

(Der Titel zitiert Marion Poschmanns Gedicht „Imponderabilien“, der in ihrem 2010 erschienenen Lyrikband „Geistersehen“ enthalten ist)