Spiegel.Flucht.Reflexion — Thomas Wallraff | Katalog GEGENLICHT, MAM Kunstverein, 2021

Ein auditives Spiegelkabinett – eine visuelle Echokammer. Erdacht und geschaffen von Raymund Kaiser, mit Klang und Komposition erfüllt durch Stefan Thomas. Der Titel: Fluchten. ‚Flucht‘ in ihrer sekundären Bedeutungsdimension als gerade, nicht unterbrochene Linie, in der beispielsweise Innenräume aneinandergereiht sind. Der Plural ‚Fluchten‘ wird angewandt, da für diese Rauminstallation die symmetrische Vervielfältigung von Bild und Raum durch Spiegelung konstituierend ist.

Ein in den Raum gestellter Raum: Raum hinter dem Raum, Raum vor dem Raum, Raum neben dem Raum, Raum unter dem Raum, sich nach oben hin öffnender und zugleich von allen Seiten umschlossener Raum. Es ist ein Raum, der sich erst einmal umgehen lässt, von außen betrachtet eine kubische Skulptur. Doch bezeichnete das griechische Ursprungswort ‚kýbos‘ zunächst gar nicht den Würfel selbst, sondern die ‚Höhlung‘, das ‚Auge‘ auf dem Würfel. Und auch hier sind die Höhlung (der Raum) und das Auge (das Sehen, die Wahrnehmung) das Wesentliche. Dabei wird schnell deutlich, dass dieser Bildraum oder dieses Raumbild auf Innensicht hin angelegt ist. Zum einen wird das Publikum von den aus dem Inneren dringenden Worten und Klängen hineingezogen, zum anderen vermitteln das von außen sichtbare, roh gezimmerte Holzgerüst und die darin eingehängten, rückseitig konstruktionstechnisch beschrifteten Paneele den durchaus richtigen Eindruck, sich hinter den Kulissen zu befinden. Schau und Spiel – mithin das Eigentliche – ereignen sich offenkundig im Inneren.

Im Inneren ist alles verspiegelt, selbst der Boden unter den Füßen, nur die Decke bleibt ausgespart. Nach oben hin kann man sich der Reflexion entziehen, und auch ein Deus ex Machina hätte notfalls die Möglichkeit des Eingreifens. Alles ist hier klar und licht und hell. Perfekte Symmetrie. Das absolute Gegenteil der platonischen Höhle. Dort, im Halbdunkel, auf unebenen Wänden flackernde Schatten – Verwirrung und Trug. Hier kristallene Klarheit in geometrischer Ordnung – Aufklärung und Erkenntnis. Von außen Skulptur, inwendig begehbarer Bildraum, begehbares Raumbild. Aber eben auch noch etwas anderes Weiteres, nämlich ein Ort der Betrachtung, Reflexion, sogar der Kontemplation. Reflexion ist ein Begriff von ausgeprägter Ambiguität. Auf der einen Seite – der objektiv-physischen, der tatsächlichen – bezeichnet die Vokabel das Phänomen der Widerspiegelung von Strahlen oder Wellen, auf der anderen – der subjektiv-psychischen oder metaphorischen – das Nachdenken über oder die prüfende Betrachtung von Dingen, Ereignissen, Wesen. Das Instrument der Reflexion ist der Spiegel. Und auch das in doppeltem oder gespiegeltem Sinne, objektiv als lichtreflektierender Spiegel oder metaphorisch als Spiegel der gedanklichen Reflexion, als spiegelnde Fläche oder Raum des Denkens, als Reflex oder Reflexion. Mannigfach die Erscheinungsformen des Spiegels, zwiespältig sein Ruf. Manche sehen in ihm einen absolut unbestechlichen Richter, andere wiederum halten ihn für den wichtigsten Komplizen der Eitelkeit. Wahrscheinlich trägt er die Befähigung zu beidem in sich, je nachdem, wer oder wie man in ihn hineinsieht. Es gibt praktische Taschenspiegel und riesige Parabolspiegel, mit denen in ferne Vergangenheiten zurückgeblickt wird; es gibt die obsolete Jahrmarktsattraktion des Zerrspiegels, der durch verfremdende Überzeichnung belustigt, und den Narrenspiegel, den sich jeder veritable Souverän vorhalten lässt, denn er weiß, im Lachen über sich selbst liegt die größtmögliche Freiheit. Doch ganz gleich, um welche Art von Spiegel es sich handelt, sie alle sind Künder der Wahrheit. Man muss nur bereit sein, sich ihnen zu stellen. Spätestens seit der Antike wird die Wahrheit mit dem Schönen und Guten, auch dem Wohltuenden, konnotiert. Aber es existiert zweifellos auch ein Übermaß an Wahrheit, Licht und Klarheit. An diesem Punkt schlägt das Wahre in das Grausame und das Schöne in das Schreckliche um. Kommt man der Sonne, dem Ur-Symbol der Wahrheit, zu nahe, verbrennen die Flügel und der Sturz in die Tiefe ist unabwendbar. Ein Zuviel an Licht blendet oder führt gar zur Erblindung. Und dem wahrhaft Schrecklichen im Antlitz der Medusa konnte Perseus nur begegnen, indem er ihr nicht direkt ins Gesicht, sondern nur auf ihr Abbild in seinem verspiegelten Schild blickte. Auch wird ihr eigener Anblick im Spiegel seines Schildes sie geschwächt und seinen Sieg begünstigt haben.

Spiegel und Bild, wie auch ihr Kompositum ‚Spiegelbild‘ als Bild in und auf einem Spiegel, sind die Konstituenzien der Raumarbeit Fluchten. Raymund Kaiser ist Maler. Das Bild ist Ausgangs- und perspektivischer Fluchtpunkt seines Schaffens. Aus der Grundidee von sich zu einem größeren Ganzen fügenden (Spiegel-)Bildtafeln, den bereits erwähnten rechteckigen Paneelen im Hochformat, auf der Vorderseite mit Spiegelkarton bezogen und durch den Künstler partiell mit matt-silbrigen Schraffuren versehen, entstand zunächst 2013 die Wandarbeit #reflect. Durchaus zu recht bereits als ‚Installation‘ apostrophiert, handelt es sich doch im Wesentlichen noch um ein 60-teiliges, wandfüllendes Tafelbild. Schon ein Jahr später (2014) präsentiert Raymund Kaiser mit ‚Open Surface‘ eine entscheidende Weiterentwicklung seiner modularen Ausgangsidee. Diesmal werden die Spiegelelemente übereck gehängt, die Arbeit tritt also aus der Fläche in den Raum, aus der Wand- entsteht eine genuine Rauminstallation. Die wesentliche Distinktion besteht jedoch in der Tatsache, dass sich das Werk nun in sich selbst spiegelt: Es wird selbstreflexiv. Im Spiegelbild spiegelt sich das Spiegelbild des Spiegelbildes. Auf prinzipiell infiniten Sichtachsen reiht sich Bildraum an Bildraum, perspektivische Fluchten entstehen. Die Räume, in denen sich Menschen bewegen, sind begrenzt; ihre Erfahrungen, ihr Wissen, sie selbst – all das ist begrenzt. Das Grenzenlose, die Unendlichkeit sind eigentlich nur abstrakte Ideen des Verstandes. Vielleicht ist die Gegenüberstellung von Spiegeln die einzige Möglichkeit, in einem begrenzten Raum die abstrakte Idee der Unendlichkeit sinnfällig zu machen, sie sichtbar werden zu lassen. Dass dies Raymund Kaiser mit oder in Fluchten gelingt, ist wahrlich nichts Geringes. Von Bedeutung ist jedoch auch, dass der geschaffene Raum von ‚Spiegelbildern‘, also Bildern auf Spiegeln, umgeben ist. Ein reines Spiegelkabinett, in dem man lediglich sich selbst betrachten würde, wäre solipsistisch. Das Begnügen mit dem eigenen Spiegelbild zeugt von einem großen Ego bei gleichzeitig schwachem Charakter. Indem der Künstler seine Spiegel bezeichnet, bemalt; ergänzt und begrenzt er die Unendlichkeit. Erst durch Begrenzung entsteht Form. Das Unbegrenzte diffundiert in die Unendlichkeit, es ist überall und nirgendwo, es ist alles und gerade deshalb nichts. Die monochrom-silbrigen Schraffuren geleiten durch ihre Umrisse, ihre Konturen, ihre Begrenzungen die Form in diesen Spiegelsaal sichtbarer Unendlichkeit.

Ein Letztes brauchte es noch, um aus diesem Werk ein Gesamtkunstwerk entstehen zu lassen. Das gesprochene Wort, den Klang, Musik. Was immer auch Musik ist – und sie ist unsagbar vieles – sie ist immer sequenzielles Ereignis in der Zeit. Die Komposition von Stefan Thomas öffnet somit den Bildraum auf die vierte Dimension: eben die Zeit. Die Zeit aber steht der Unendlichkeit spiegelverkehrt gegenüber. Die Zeit ist das Element in dem man existiert und schwebt, das Element dessen konstanter Strömung man sich nicht widersetzen kann. Durch ihr Fortschreiten und ihre Wirkungen gehört die Zeit in jedem Augenblick der Erfahrung und Empfindung an, doch eine abstrakte Idee davon, was sie ist, die gibt es nicht.