Malerei wahrnehmen – Malerei lesen | Tobias Gerstner | Katalog über malen | galerie januar, 1993

Der künstlerische Ansatz von Raymund Kaiser ist analytisch. Der Ausgangspunkt seiner Untersuchungen ist immer die Malerei. Die Ergebnisse seiner künstlerischen Untersuchungen sind Bilder, Wandobjekte und in neuester Zeit auch Installationen. Sie sind zwar noch deutlich auf dem Gebiet der Malerei anzusiedeln. Zugleich befragen sie jedoch auch genau die Randbereiche des Mediums. Sie untersuchen die Grenzen, an denen sich die Malerei öffnet hin zum Wandobjekt, zur Fotografie, hin zum konkreten architektonischen Raum, aber auch hin zu einem intellektuellen, spekulativen Raum.

Hinter dem künstlerischen Ansatz von Raymund Kaiser steht die Absicht, sich über die Grenzbereiche des Mediums zu orientieren und sie mit den Techniken und Mitteln der Malerei auszumessen. Kunstwerke im Rahmen dieser Malerei sind keine bloßen Objekte, auf denen die Ergebnisse der künstlerischen Untersuchung zusammenfassend fixiert wurden. Es sind Objekte der Wahrnehmung, die es aufmerksam zu lesen gilt.

Wahrnehmung benötigt Aufmerksamkeit: durch sie sind wir in der Lage, einen Sinneseindruck festzuhalten, aber auch den Wechsel der Sinneseindrücke zu registrieren. Insofern ist Wahrnehmung ein Vorgang, der, in der Zeit sich entfaltend, stets unsere geistigen Fähigkeiten miteinbezieht und herausfordert: die Fähigkeit zu erinnern, zu vergleichen, einzuordnen. Die sinnlichen und intellektuellen Erfahrungen, die an der Malerei Raymund Kaisers zu machen sind, bündeln sich im Brennglas einer solchen aufmerksamen, reflektierenden Wahrnehmung und formen dabei den Text und Kontext, durch den die Objekte lesbar, verstehbar werden.

So sind die Malereien Raymund Kaisers vom Farblichen her gesehn beispielsweise auf zwei unterschiedliche Formen der Wahrnehmung hin angelegt. Es sind Bilder der starken Wirkungen und zugleich Bilder der feinen Differenzen. Der Signalcharakter mancher Farben läßt sich einer Strategie der starken Wirkung zurechnen, die den Blick anzieht und das Bild zu einem Objekt werden läßt, dem man sich annähern will, um es genauer zu studieren. Ahnliches gilt für die – wenn auch subtiler sich zeigenden – Kontraste zwischen den zwei Farben auf einem Bild. Weil der Stimulus der plakativen Fernwirkung relativ stark ist, können auf den ersten Blick nur die großen Unterschiede wahrgenommen werden.

Nähert man sich dem Bild, so schlägt diese Art der Wahrnehmung in eine entgegengesetzte Form von Wahrnehmung um. Sie beruht auf der Tatsache, daß unser Unterscheidungsvermögen größer wird, je feiner die Unterschiede sind. Gerade die nahsichtige Betrachtungsweise eröffnet einen ungemein grossen Spielraum für die Entdeckung der ganzen Bandbreite von Differenzierungen, die sich aus Farbe, Farbauftrag und Lichteinfall ergeben.

Dieses Umschlagen von der groben Fernwahrnehmung zu einer differenzierten Feinwahrnehmung ist eine Erfahrung, die der Betrachter – über die Malerei – an sich selbst macht. An diese Erfahrungen lassen sich vielfältige Überlegungen knüpfen, wie die Malerei Raymund Kaisers zu lesen ist. Der Wechsel der Wahrnehmungsweisen führt beispielsweise vor Augen, daß es die monochrome Fläche eigentlich nicht gibt – zumindest nicht im Bereich des Materiellen. Zwar zitiert die plakative Fernwirkung der Bilder die Monochromie der Farbflächen herbei. Ihre differenzierte Nahwirkung läst sie jedoch zugleich wieder auf. Die perfekte monochrome, einheitliche Farbfläche ist nicht herstellbar, sondern nur denkbar. Als Objekte der Wahrnehmung werden die Bilder Raymund Kaisers so zu Objekten der Spekulation über die materiellen und immateriellen Aspekte von Malerei.

Auf einer anderen Ebene läßt sich ähnliches feststellen: Das Bild weist über sich selbst hinaus, weil es einem außerhalb der Wahrnehmung liegenden Ganzen anzugehören scheint. Das ergibt sich dadurch, daß das Bild ein Fragment ist, daß der ausgebrochene, unregelmäßig verlaufende Bildrand auf ein fehlendes Teil hinweist. Das Fragment betont als Bruchstück einerseits die materielle Seite des Kunstwerkes, das Objekthafte des Bildes. Andererseits löst der fragmentarische Charakter beim Betrachter auch die vage Vorstellung eines vollständigen Bildes aus. Verstärkt wird dieser Eindruck dadurch, daß die Malerei selbst nur ausschnitthaft ist: sie zeigt die Stelle, an der zwei Farbfelder aufeinandertreffen, bei manchen Arbeiten auch die Stelle, an der sich ein Farbfeld in ein anderes hineinschiebt. Über eine imaginäre Ausdehnung der Farbfelder über die Bildbegrenzung hinaus läßt sich (nur) spekulieren.

Raymund Kaiser verwendet nicht die traditionelle Leinwand als Bildträger, sondern er malt auf Spanplatten, auf Karton oder Fotografien. Die Grundidee seiner Malerei besteht darin, eine Farbsituation herzustellen, die sich auf die Farbigkeit des Bildträgers bezieht, indem eine zweite Farbe ausgewählt und aufgetragen wird. Bei den meisten neuen Arbeiten ist der Farbkontrast eher subtil, wodurch die Art und Weise des Farbauftrages stärker zur Geltung kommen kann. Häufig wird die Farbsubstanz mit dem Spachtel verstrichen, um so ihre materielle Wirkung zu steigern. Andererseits besitzt der Farbauftrag auch einen gewissen Ausdruckswert. Er verweist auf den Malvorgang. An ihm läßt sich die ruhige Bewegung der Hand, die Konzentration während des Malens ablesen.

Die Wahl der Bildträger, aber auch die emotionale Zurückhaltung beim Farbauftrag lassen sich als Gesten verstehen, die einen Bezug zur alltäglichen Lebens- und Erfahrungswelt aufnehmen. Es baut sich auch ein Bezug zu bestimmten künstlerischen Strömungen der Moderne auf. Ich denke an die durchaus ‚minimalistisch‘ anmutende Strenge der Arbeiten, die sich durch die harten Linien ergibt, mit der die Farbflächen aufeinanderstoßen – minimalistisch nicht im Sinne eines Zitates, sondern als Reminiszens, die sich aus dem analytischen Ansatz des Künstlers ergibt. Der Farbauftrag verleiht der Bildoberfläche manchmal eine fast reliefartige Beschaffenheit. Besonders ausgeprägt finden sich solche reliefartigen Oberflächen bei den Fotoübermalungen. Auf ihnen wird das einfallende Licht sehr stark reflektiert. Über das Licht, das nicht dem Bild selbst angehört, sondern der jeweiligen Umgebung, nimmt die Malerei eine sensible Beziehung zum Raum auf. Bedeutungsvoll sind diese Lichteffekte auch, weil sie sich bei den Fotoübermalungen in Kontrast setzen zur Oberfläche der Schwarz-Weiß Fotografie. Damit hat Raymund Kaiser ein Thema aufgenommen, das inzwischen zahlreiche künstlerische Formulierungen kennt: die Beziehung zwischen Malerei und Fotografie. Manche der Fotoübermalungen bringen gerade die Frage nach dem Licht in der Malerei und in der Fotografie mit einer prägnanten und exakten Formulierung auf den Punkt: die Fotografie speichert Licht auf fotochemische Weise und bildet es ab. Die Malerei kann Licht zwar ebenfalls durch helle und dunkle Farbwerte abbilden. Sie verfügt aber auch über die Möglichkeit, das Licht auf sehr kalkulierte Weise direkt auf der Oberfläche einzufangen und es zu reflektieren.

Das Spannungsverhältnis, das sich zwischen der Malerei und dem jeweiligen architektonischen Umfeld aufbaut, wird in den Installationen, die seit neuester Zeit entstehen, ganz unmittelbar thematisiert. Hier öffnet sich die Malerei weitgehend dem dreidimensionalen Raum. Die Wand selbst ist als Farbträger integriert. Auf ihr wird Farbe direkt aufgemalt, und vor diese Farbfläche wird eine monochrome Farbtafel gehängt, die eine Farbsituation erzeugt, die nun nicht mehr an eine gemeinsame zweidimensionale Fläche gebunden, sondern auf zwei räumlich getrennte Ebenen verteilt ist.