Der schöne Grund | Reinhard Ermen | Katalog Malereien 2000-2006 | English Translation by Elizabeth Volk

Was ist zu sehen? Die Augen suchen, der Betrachter beginnt vor dem Objekt zu wandern; Bilder wie diese wollen erkundet werden, sie erfordern die Wahrnehmung aus wechselnden Perspektiven. Kleine Veränderungen des Lichts führen zu einem anderen Ergebnis. Zeit wird gebraucht, um das Eigentliche zu finden, deshalb sind diese Bilder auch so schwer zu reproduzieren, ein Druck kann bestenfalls einen Zustand, einen Augenblick festhalten. Dabei geht es um eine ganz einfache Tatsache: Auf sanft spiegelndem Grund liegen matte Flächen. Irritierend und damit eine produktive Ursache der Eingangsfrage ist die Tatsache, dass die Farbtöne von Grund und Fläche (vielleicht sollte man gar von Flecken sprechen) eng beieinander liegen. Diese Nähe ist ein konstituierendes Element der Arbeit, das Wort von der ›Monochromie‹ ist schnell bei der Hand. Ganz offensichtlich gibt es beim Malen zwei unterschiedliche Zugangsweisen. Die eine erstellt den kristallin leuchtenden Fond mit seiner durchaus kostbaren Anmutung, die andere setzt weiträumig und material satt die Flächen, die sich wie Inseln oder Erdteile aus der Umgebung erheben.

Eigentlich malt Raymund Kaiser jedes Mal zwei Bilder. Das erste wird langsam, mit einer fast schon altmeisterlichen Geduld in Schichten aufgebaut und mit einer farbigen Lasur gleichsam versiegelt. Der Prozess nimmt seine Zeit in Anspruch und erfordert technische Souveränität genauso wie gefühlvolle Handhabe der Farbe. Relativ lange Trocknungsphasen begleiten diesen Schritt. Heraus kommt der schöne Träger, für den beim ersten Blick bereits das Wort einer kostbaren Anmutung bemüht wurde. Das ist keine Grundierung mehr, der Malkörper emanzipiert sich als eigenständiger Farbraum: gedankenvoll, transparent und schimmernd, unmerklich bewegt von den Spuren des Arbeitsprozesses, der die solchermaßen zu erstellende Tafel auch vor jedem Staubkörnchen schützen muss. »Noli me tangere«, scheinen diese empfindsamen, narzisstisch in sich selbst versunkenen Wesen leise zu rufen.

Der zweite Schritt zum Bild erscheint angesichts solcher Unberührbarkeit fast wie eine Entjungferung, oder, um es weniger spektakulär zu sagen: wie eine deutliche Inbesitznahme! Jeder Strich auf einem weißen Blatt, jeder Pinselzug auf einer frisch grundierten Leinwand ist ein solcher Eingriff mit entsprechenden Besitzansprüchen, die sich nur durch sinnvolle Arbeit legitimieren. Doch in diesem Fall erscheint der Eingriff bedeutsamer, da er auf eine besonders sorgsam präparierte, gleichsam vorfertige Tafel trifft und deren Dasein erst einmal in Frage stellt. Der Akt der partiellen Übermalung formuliert sich mit einer Art Tarnfarbe, die Bedeutung des zweiten, des eigentlichen Malaktes wird durch diese monochrome Nähe bewusst potenziert, es geht schließlich nicht um einen koloristischen Kontrast, sondern um zwei grundsätzlich verschiedene Zugangsweisen. Die andere Farbe mit ihrer anderen, wenn man so will: eindimensionaleren, jedenfalls lapidaren Konsistenz, der Technikwechsel von der fundamentalen Aufbauarbeit zur Primamalerei, erscheint im Arbeitsprozess als bedeutender Augenblick, dessen Ergebnisse nicht rückgängig gemacht werden können. Einmal gesetzt, gibt es kaum eine Möglichkeit zur Korrektur. Der Moment dieser bedeutsamen Handlung, ja: Verletzung ist der Arbeit spannungsvoll eingeschrieben, sie lebt von dieser Reibungsfläche zweier Gesten. Das langwierig begonnene Stück gelangt in relativ wenigen Zügen auf eine andere Ebene. Es ist womöglich wie beim Stabhochsprung; dem eigentlichen Kraftakt geht der um ein Vielfaches längere Konzentrationsprozess voraus, noch ehe Anlauf genommen wird. Der Sprung selbst dauert wenige Sekunden. Die monologische Vorarbeit gebiert einen kurzen, intensiven Dialog, der im übertragenen Sinne nachhallt und in dem konkreten Relief gefriert. Die Dialogpartner selbst können ganz unterschiedliche Namen haben, etwa Schichten- und Primamalerei, ein anderer wäre schnell und langsam, ein weiterer transparent und opak; zwei Prinzipien stoßen, nein: folgen aufeinander und formulieren das endgültige Bild.

So ein fundamentaler Dialog hat die Arbeit von Raymund Kaiser schon immer bestimmt. In den frühen 1990er Jahren finden sich Bilder auf Spanplatten, bei denen die eine Hälfte mit einem satten Ton in Öl erstellt ist, während der exakt davon abgetrennte Rest die Grundierung offen stehen lässt. ›Grundierung‹ wohlgemerkt – das erste, vorfertige Bild ist noch weit davon entfernt, aber das Prinzip ist schon da. In einer weiteren Phase kommt er den zwei gleichwertigen Phasen mit der im Prozess emanzipierten Vorarbeit bereits näher. Erste Farbe, bzw. selbstbewusste Grundierung ist ein Photo; nicht ein Abbild, sondern ein ins Riesenhafte vergrößerter Ausschnitt, im Wesentlichen eine Farbe, der Kaiser sich in Öl annähert, um damit den (größeren) Rest des Trägers zu füllen. Die gänzlich andere Materialität der gefundenen oder gesuchten Photo-Farbe hat bereits den kontrastierenden Gestus seiner jetzigen Arbeiten. Ein freies Oszillieren, manchmal auch entfernte Reste von Konturen individualisieren den ersten Schritt. Gelegentlich greift Kaiser auf diese photographische Vorarbeit auch heute noch zurück, zumal es auch in den gemalten Gründen gelegentlich weiche Übergänge und bedächtige Schattierungen gibt. Lange Zeit waren die beiden Felder auch durch eine gerade Grenze sehr deutlich voneinander getrennt. Ein anderes Erkennungsmerkmal seiner früheren Arbeit hat er mittlerweile gänzlich aufgegeben. Die bevorzugten Träger aus Spanplatten hatten mehrere Bruchkanten. Von diesen expressiven Abschlüssen (schlussendlich war es nur noch eine von vier Kanten, mit welcher die Tafel sozusagen in den Raum geöffnet wurde) hat er sich mittlerweile gänzlich verabschiedet. Der gemalte Grund widerspräche auch dem Bruch, der zuletzt nur noch die saubere Abrisskante des Photopapiers war. Mit den anmutigen, langwierig erstellten Malkörpern schließt sich das Bild empfindsam ab, die Arbeit ist stiller geworden.

Eine Variante von Raymund Kaisers dialogischem Prinzip ist auch in einer architektonischen Anwendung möglich, etwa 1998 für die evangelisch-reformierte Kirche in Radevormwald, wo hell leuchtende, gelbe Platten in die tiefen, schrägen Fensterbankgesimse eingelegt waren und mit ihrer matten Anmutung in den Raum leuchteten. Der erste, vorbereitende Malgang war in einer modifizierten Version mit sich selbst allein, eine zweite Farbspur gab es nicht, doch die große, freie Glastüre gewährte den Blick auf beide Seiten, die perfekte Außenseite und die auf der anderen Seite gesetzte Farbe selbst. Von da aus, mit dem Blick nach vorn könnte man von ›Hinterglasarbeiten‹ sprechen. So verwandelt er 2004 einen frei stehenden Pavillon in eine architektonisch-malerische Skulptur. Die Glasfronten einer ehemaligen Schwimmhalle werden von innen dunkelviolett zugemalt. Von außen setzt Kaiser die gleiche Farbe in matten Inseln auf das geschlossene Glas. Der verglaste Farbgrund entrückt die erste Schicht, die Inseln setzen sich ab. Die Fenster verweigern den Durchblick und gewähren stattdessen ihr eigenes So-Sein, ihre Neudefinition als Malerei. Das Bild, in diesem Falle ein Haus für die Farbe, steht frei. Die zwei Phasen der Arbeit liegen dicht beieinander, und sind doch konkret durch das Glas getrennt, die Farbtöne kommen sich natürlich nahe, das allgegenwärtige Arbeitsgesetz trennt die Wege. Die Außenwahrnehmung bestimmt den Eindruck.

Beispiele wie diese, im Ganzen also die Arbeit von Raymund Kaiser, belegen, dass im weitgehend ausgeschrittenen Feld der Malerei noch unbearbeitete Felder zu finden sind. Es ist möglich, in einer Zeit, in der alle Bilder schon gemalt, alle Sachverhalte gesagt und gesungen sind, in eigene Räume vorzustoßen, wo unverwechselbare Dinge entstehen; beileibe keine neuen Fundamental-entdeckungen, aber Stücke, die guten, streckenweise neu formulierten Gesetzen gehorchen und damit auf relativ sicherem Boden gebaut sind. Die Anregungen dazu kommen von innen, Raymund Kaiser findet sie auf dem Weg des Bildes zu einer konstituierenden Eigengesetzlichkeit. Farbe, Gestus und Träger sind die primären Elemente dieser Selbstvergewisserung. Ein Maßnehmen an Vorlagen, das Auslutschen und Aufblasen der falschen Realitäten, die als Malerei noch falscher werden und dem Publikum Vertrautheit nur vortäuschen, ist nicht nötig. Die Arbeit generiert sich nach eigenen, höchst einfachen Handlungsabsichten, und heraus kommt ein Stück, das die Rezeption in Bewegung setzt. Das Licht, ohne das Malerei nicht sein kann, wird dementsprechend herausgefordert, und es spielt mit. Ein alter Traum von Schönheit aus Einfachheit und Ehrlichkeit mischt sich ein. Unverwechselbarkeit, Individualität ist ein wichtiges Ergebnis, und warum nicht: Ein durchaus irritierendes Moment von Eleganz entwickelt eine angemessene Rhetorik.

Der Diskurs der Prinzipien ist noch nicht ausgereizt. Mit jedem Zug in bzw. auf das vorfertige, nichtrelationale erste Bild (das gilt auch für die ›Hinterglasmalerei‹) gerät das natürliche Gleichgewicht des monochromen Farbkörpers (vorerst) ins Wanken; mit einem quasi kompositorischen Prozess, der sich dann freilich in der Fläche verliert, muss die Waagerechte wiederhergestellt werden. Das Problem ist fast so alt wie die Kunst selber! Die Gefahr, dass das nicht gelingt, ist mit eingeschlossen. In gewisser Weise ist dieser Prozess in Skizzen vorab ertastbar, doch bei der konkreten Arbeit, wenn der breite Spachtel bzw. Rakel gleichmäßig schwebend über die zweite Farbe gezogen wird, verselbständigt sich ab einem bestimmten Punkt das Material. Das Setzen der Inseln, der Erdteile mit der matten, gesättigten Farbe ist ein Balanceakt aus Vorplanung mit dem Blick auf den Ausgleich und dem Eigensinn des Materials. Es entsteht so etwas wie die zweite, die künstliche Natur des Bildes; die Assoziation an eine Landkarte belegt, dass dieser Ausgleich zustande kam.

Bild? Vielleicht ist dieser überkommene Begriff bis jetzt schon viel zu oft und viel zu leichtfertig gesetzt worden, schließlich handelt es sich hier nicht um eine Versammlung von Zeichen, die für etwas anderes stehen, ein Abbild etwa oder eine dementsprechende expressive Nachricht an die Betrachter. Das Bild ist ein Gemälde, das nichts als sich selbst thematisiert. Das Konstatieren vorbereitender Setzungen, des dialogischen Nacheinander, der Abfolge kontrastierender Prinzipien wie Konzentration, Anlauf und Sprung ist eine helfende Maßnahme, gelegentlich auch nur eine Ballung von Vokabeln, um der Autonomie Herr zu werden, um das Sehen zu sondieren. Unnötig zu sagen, dass hier auch nicht von etwas abstrahiert wird. Doch im Grundsätzlichen der malerischen Handlungsverläufe liegt die Selbstverständlichkeit eines Paradigmas, das sich unter Zuhilfenahme sprechender Metaphern naturalisiert. Dass sich so die prachtvolle, durchaus kühle, in gewisser Weise sichere Autonomie der schönen Objekte partiell ins Dramatische formuliert, spricht für die glückliche Ankunft. Das ›Bild‹ darf sein, man muss nur wissen, wohin es unterwegs ist.

Was ist also zu sehen? Das Bild, die Übereinkunft der beiden Wege zu sich selbst, der Dialog der produktiven Prinzipien! Die Erkundungen der Rezipienten verbünden sich mit dem Licht, weil sie darauf angewiesen sind. Zum Teil sehen die Betrachter sich aber auch selbst und ihre Umgebung; verwischt, verschwommen, gelegentlich verdeckt durch die matte Ölfarbe, die nicht spiegelt. Die Arbeit, das Objekt drängt sich nicht auf, wer hineinschaut, muss ausgleichen zwischen dem Spiegelbild und den elementaren Spuren der Bilderstellung. Der ständige Wechsel der Perspektiven ist nicht nur notwendig um das Objekt zu erobern, sondern auch um gegebenenfalls dem eigenen Bild im Gegenüber der Malerei gleichsam auszuweichen oder um es angemessen im Prozess des Sehens zu verorten. Die Betrachter, die sich so eine Arbeit forschend zu Eigen machen, aktivieren ihre Wahrnehmung. Das ist auch eine Art Überlebenstraining in der großen Bilderflut. Wer das weiß, lässt sich anderswo nicht so schnell überrollen.