Mehr als Sehen – Über die Macht der Farbe | Sabine Sander-Fell | Ausstellung im Kunstverein Bochum, 2003 | Traduction par Nadia van der Grinten | Katalog

Raymund Kaiser reflektiert über die Farbe. Seine Bilder handeln von ihrer physischen Beschaffenheit und sinnlichen Wahrnehmung. Dabei wird eine Strategie erkennbar, die sich durch ein Wechselspiel von spiegelnden und opaken Farbflächen auszeichnet. Während Raymund Kaiser in seinen früheren Bildern auf ein formales Kompositionsschema zurückgreift, indem er den Bildraum präzise horizontal oder vertikal teilt, erprobt er in seinen neuesten Arbeiten eine freie Flächenaufteilung, die spontan im Moment des Farbauftrags entsteht und kein stringentes Schema mehr erkennen lässt.

Als Bildgrund verwendet Raymund Kaiser eine weiß grundierte, geschliffene Holztafel, auf die er eine schnell trocknende Alkydfarbe mit einem Spachtel gleichmäßig deckend aufträgt. Auf diese glatte Farbschicht trägt er nun in mehreren Lagen eine stark lasierende Ölfarbe mit einem breiten Pinsel auf. Das Trocknen der jeweiligen Farbschicht macht das weitere Vorgehen zu einem über Wochen andauernden Prozess. Die verwendeten Lasurfarben können einer Farbgruppe angehören oder aber im Farbton divergieren. Auf diese Weise entsteht ein lebhaft leuchtendes, helles Rot oder ein grünliches Ocker, das ins Kobaltblaue changiert. Das Auftragen der Lasurfarbe ist Experiment und Kalkül zugleich. Dabei spielt der Versuch, einen bisher noch nicht gesehenen Farbton zu finden, eine Rolle. Auch die momentane Stimmung hat Einfluss auf die Auswahl der Farben. Aus der Überlagerung transparenter Einzelfarben entwickelt sich eine individuelle Farbigkeit, die weiter reicht als konventionelle Farbbenennungen. Die Mehrdeutigkeit der Farbeindrücke – der unvertraute Farbton der Malerei – fordert die visuelle Wahrnehmung des Betrachters heraus. Im Anschluss an die Lasurmalerei trägt Raymund Kaiser mit dem Spachtel oder der Malerschiene eine opake Ölfarbe auf die sich spiegelnde Farbfläche auf. Diese Farbe wird mit einem Wachs angereichert, um ihr eine festere, dickere Konsistenz zu geben. Von oben nach unten wird die Farbe meist in einem Arbeitsgang über die darunter liegenden Farbschichten gezogen. Je nach Farbmenge entsteht unter dem gleichmäßigen Druck der Malerschiene eine glatte, matt schimmernde, pastose Farbschicht, die sich schollenartig auf der Bildfläche ausbreitet. Wenngleich ihre Verteilung in jedem Bild andere Konfigurationen bildet, wird deutlich, dass sich größere, zusammenhängende Farbpartien an den Bildrändern sowie in der unteren Bildhälfte in kleinere Farbinseln auflösen. Der Farbton wird von der darunter liegenden Lasurmalerei bestimmt. Mit Farbproben wird die opake Ölfarbe analytisch ermittelt, um den Farbeindruck der beiden Schichten – so weit wie dies nur möglich ist – anzunähern.

Die Arbeiten von Raymund Kaiser reagieren subtil auf das Licht und den sie umgebenden Raum. Im Verlauf eines Tages verändert das Bild mehrfach seine Farberscheinungen. Je nach Lichtstärke und Einfallswinkel der Lichtquelle oszillieren die verschieden farbigen Pigmente der transparenten Lasurmalerei und erzeugen ein komplexes Farbenspiel. Die spiegelnde Oberfläche der Malerei öffnet das Bild nach außen und fängt Fragmente der Wirklichkeit ein. Dem Betrachter eröffnen sich so weitere Sehoptionen, da er durch den Wechsel seiner Position die Spiegelungen beeinflussen kann: Je nach Standort ergibt sich eine neue Perspektive. Das Wahrnehmen der gespiegelten Wirklichkeit im Bild mag den Betrachter zunächst irritieren. Die visuellen Reize, die Neugier und die Schaulust, die diese Spiegelungen erzeugen, versetzen das Sehen in einen Zustand höchster Aufmerksamkeit.

Jedoch konterkariert die darüber liegende, opake Farbschicht beständig die Öffnung des Bildes nach außen. Je nach Größe ihrer Ausdehnung unterbindet sie die Raumillusion und versiegelt die darunter liegende, spiegelnde Bildfläche. Auf diese Weise entsteht ein spannungsvolles Zusammenspiel zwischen Spiegelungen und Verhüllungen. Die Bilder erzeugen über ihre Farbe visuelle Energien, die auf die Emotionalität des Betrachters einwirken. Es ist die Macht der Farbe, mit der Raymund Kaiser den Sehenden berührt und zugleich durch den Konzentrationsprozess auf die jeweilige Farbwirkung in ganz unterschiedlicher Weise Resonanz erzeugt.

Parallel zu den gemalten Bildern finden sich Arbeiten, in denen Raymund Kaiser Malerei mit dem Medium der Fotografie kombiniert. Im Unterschied jedoch zur spiegelnden Lasurmalerei reagiert die Oberfläche der Fotografie weniger stark auf Licht und Umraum: Sie erscheint als matter, zarter Farbschleier, der durch seine feinen Farbschattierungen aus sich selbst heraus Räumlichkeit suggeriert. Diese tiefenräumliche Wirkung, die Spekulationen über verschiedene denkbare Raumasso-ziationen auslöst, wird durch eine opake Übermalung, die sich dem Farbton der Fotografie angleicht, beständig herausgefordert.

Die Bilder von Raymund Kaiser untersuchen Phänomene, die Augen und Intellekt in gleichem Maße ansprechen. Seine Malerei entwickelt sich aus der Farbe, die er in ihrer unterschiedlichen Materialität auf ihre optische Wirkung hin analysiert. In diesem Sinne ist das sichtbare Bild eine wandelbare Erscheinung. Es entfaltet eine Bildästhetik, die die vitale Qualität des Sichtbaren stets aufs Neue erfahrbar macht und die Freuden des Sehens* vor Augen führt. 

* Bridget Riley: Malen um zu sehen. Gesammelte Schriften 1965-2001; 2002